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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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frist gönnen werde. Seit der Proelamirung der Republik sind die Bieder-
maier vollends erhaben geworden. Wenn auch sonst Niemand, sie sind
durch Jules Favre und Victor Hugo vollkommen überzeugt worden, daß
die Deutschen wortbrüchige Barbaren sind, wenn sie sich nicht schleunigst
hinter die alten Grenzen zurückziehen und sich bei der provisorischen Re¬
gierung wegen ihres kecken Eindringens höflich entschuldigen. Erschreckender
haben sich vielleicht noch nie die unseligen Einwirkungen des östreichischen
Regierungssystems der letzten Jahrhunderte fühlbar gemacht, jene überwiegende
Entwickelung der Extreme: Bigotterie, Jndifferentismus ohne philosophische
Bildung, engherzigster Localpatriotismus und phrasenhafter Kosmopolitismus.
In den religiös und politisch glaubenslosen Schichten der Bevölkerung fehlt
begreiflicherweise alle Fähigkeit, den heiligen Ernst zu begreifen, mit welchem
das deutsche Volk in diesen Kampf gegangen ist und in ihm ausdauert, jedes
Verständniß für das Vertrauen, die Hingebung und Verehrung der kämpfenden
Nation für ihre diplomatischen und militärischen Führer. Nichts ekelhafteres
als die Kaffeehauswitze über die telegraphischen Bulletins des Königs, ge¬
sprochen und geschrieben von Menschen, die noch nie eine" jener Momente
selbst erlebten, wo "an die Rippen pocht das Männerherz!"

Dem gegenüber macht allerdings unter dem anständigen Theile der Be¬
völkerung eine vorurtyeilslose Anschauung der Sachlage täglich mehr Fort¬
schritte, ein Erfolg, dessen Verdienst die auf dem eingenommenen Posten treu
ausharrenden,bedeutenderen Wiener Blätter zum großen Theil sich beimessen
dürfen. Verschiedene Anzeichen sprechen dafür, daß man auch bei Hofe und
im auswärtigen Amte endlich erkannt hat, die Politik der Rancune gegen
Preußen, welche allen offiziellen Betheuerungen zum Trotz bis vor Kurzem
befolgt wurde, müsse aufgegeben werden, rückhaltlose Anerkennung der gege¬
benen Verhältnisse allein könne Oestreich und könne Europa den ersehnten
Frieden und die Sicherheit wiedergeben. Graf Beust will gegenwärtig diesen
Satz mit eben so viel Eifer vertreten, wie er im Laufe der Jahre die man-
nichfaltigsten Sätze verfochen hat. Aber es fragt sich sehr, ob ihm vorbehal¬
ten sein wird, diese vernünftige Wendung der östreichischen Politik selbst durch¬
zuführen. Ausgenommen die strengkatholische hat er es nach und nach mit
allen Parteien gehalten und mit allen verdorben. Möglicherweise würde er
auch mit jener eine Verständigung suchen, wüßte er nicht, daß dort alle Mühe
verloren wäre, wo man ihm allenfalls seinen Opportunitätsliberalismus,
nimmermehr aber seine Schritte gegen Rom verzeiht. Wie weit er mitver¬
antwortlich ist für die Maßregeln des Ministeriums Potocki -- wer weiß
es! Aber schwerlich wird er umhin können, die Verantwortung mit zu über¬
nehmen und mit Anstand abzutreten, bevor er ohne Rücksicht bei Seite ge-


frist gönnen werde. Seit der Proelamirung der Republik sind die Bieder-
maier vollends erhaben geworden. Wenn auch sonst Niemand, sie sind
durch Jules Favre und Victor Hugo vollkommen überzeugt worden, daß
die Deutschen wortbrüchige Barbaren sind, wenn sie sich nicht schleunigst
hinter die alten Grenzen zurückziehen und sich bei der provisorischen Re¬
gierung wegen ihres kecken Eindringens höflich entschuldigen. Erschreckender
haben sich vielleicht noch nie die unseligen Einwirkungen des östreichischen
Regierungssystems der letzten Jahrhunderte fühlbar gemacht, jene überwiegende
Entwickelung der Extreme: Bigotterie, Jndifferentismus ohne philosophische
Bildung, engherzigster Localpatriotismus und phrasenhafter Kosmopolitismus.
In den religiös und politisch glaubenslosen Schichten der Bevölkerung fehlt
begreiflicherweise alle Fähigkeit, den heiligen Ernst zu begreifen, mit welchem
das deutsche Volk in diesen Kampf gegangen ist und in ihm ausdauert, jedes
Verständniß für das Vertrauen, die Hingebung und Verehrung der kämpfenden
Nation für ihre diplomatischen und militärischen Führer. Nichts ekelhafteres
als die Kaffeehauswitze über die telegraphischen Bulletins des Königs, ge¬
sprochen und geschrieben von Menschen, die noch nie eine» jener Momente
selbst erlebten, wo „an die Rippen pocht das Männerherz!"

Dem gegenüber macht allerdings unter dem anständigen Theile der Be¬
völkerung eine vorurtyeilslose Anschauung der Sachlage täglich mehr Fort¬
schritte, ein Erfolg, dessen Verdienst die auf dem eingenommenen Posten treu
ausharrenden,bedeutenderen Wiener Blätter zum großen Theil sich beimessen
dürfen. Verschiedene Anzeichen sprechen dafür, daß man auch bei Hofe und
im auswärtigen Amte endlich erkannt hat, die Politik der Rancune gegen
Preußen, welche allen offiziellen Betheuerungen zum Trotz bis vor Kurzem
befolgt wurde, müsse aufgegeben werden, rückhaltlose Anerkennung der gege¬
benen Verhältnisse allein könne Oestreich und könne Europa den ersehnten
Frieden und die Sicherheit wiedergeben. Graf Beust will gegenwärtig diesen
Satz mit eben so viel Eifer vertreten, wie er im Laufe der Jahre die man-
nichfaltigsten Sätze verfochen hat. Aber es fragt sich sehr, ob ihm vorbehal¬
ten sein wird, diese vernünftige Wendung der östreichischen Politik selbst durch¬
zuführen. Ausgenommen die strengkatholische hat er es nach und nach mit
allen Parteien gehalten und mit allen verdorben. Möglicherweise würde er
auch mit jener eine Verständigung suchen, wüßte er nicht, daß dort alle Mühe
verloren wäre, wo man ihm allenfalls seinen Opportunitätsliberalismus,
nimmermehr aber seine Schritte gegen Rom verzeiht. Wie weit er mitver¬
antwortlich ist für die Maßregeln des Ministeriums Potocki — wer weiß
es! Aber schwerlich wird er umhin können, die Verantwortung mit zu über¬
nehmen und mit Anstand abzutreten, bevor er ohne Rücksicht bei Seite ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/546>, abgerufen am 29.06.2024.