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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Wahrung der Macht aus Gewissensbedenken die Mittel verschmäht hätte,
welche der Verwallungsorganismus ihm im reichsten Maße gewährte und
deren Gebrauch das tief gesunkene öffentliche Sittlichkeitsgefühl ihm gestattete.

Mit dem Gefühl der sittlichen Verantwortlichkeit schwand aber auch das
uneigennützige Rechtsbewußtsein, schwand vor Allem der Sinn für Wahrheit,
die edelste Frucht und zugleich der kräftigste Schutz des männlichen Selbst¬
gefühls in dem Einzelnen, wie in der ganzen Nation. Wo nur die selbst¬
süchtigsten Erwägungen das Verhalten der Parteien bestimmen, wo der
Mangel an Ueberzeugungen durch die schillernde Phrase verhüllt wird, wo
man sich systematisch in eine permanente Leidenschaft hineinredet, die man
(wir erinnern u. A. an Emil von Girardin) zu empfinden viel zu frivol ist,
wo man es selbstverständlich findet, daß im politischen Kampfe jede Waffe,
auch die Verleumdung erlaubt ist, da wird das öffentliche Leben von der Selbst¬
täuschung und von der bewußten Lüge beherrscht, deren vergiftender Wir¬
kung auch edler angelegte Charaktere nicht widerstehen können.

Zu einer kräftigen Reaction gegen den Bonapartismus, der seine Herr¬
schaft ja grade auf der Verkommenheit des politischen Geistes begründet
hatte und dem sittlichen Zustande der Franzosen durchaus adäquat war,
zeigte sich daher Frankreich auch nachdem die Schwächen der auswärtigen kai¬
serlichen Politik ^offenbar geworden waren, nicht fähig. Aber Frankreich
grollte. Eine dumpfe Mißstimmung lastete auf den Gemüthern und die offi¬
ziellen Lobreden und Schmeicheleien nahmen sich fast wie bittere Satyre aus
die Wirklichkeit aus. Sie fanden keinen Anklang im Volke und doch bedürfte
das Kaiserthum, wenn es sein Prestige nicht einbüßen sollte, des lauten Bei¬
falls. Napoleon fand daher schon vor der mexikanischen Expedition, daß "es
Zeit sei, die Zügel wenigstens scheinbar zu lockern. Die völlige Nichtigkeit
des Gesetzgebenden Körpers, die Gleichgiltigkeit, mit der das Volk seine Be¬
rathungen ausnahm, berührten die Regierung selbst peinlich. Napoleon sah
-- das spricht er selbst aus -- daß es gerathen schien, die Augen der Nation
auf die Berathungen der großen Staatskörper zu lenken, und um den Fran¬
zosen wenigstens ein parlamentarisches Schauspiel zu bieten, wurde dem
Gesetzgebenden Körper das Recht gewährt, die Thronrede mit einer Adresse
zu beantworten; zugleich sollte durch Ernennung von Sprechministern ohne
Portefeuille die Regierung in den Stand gesetzt werden, ihre Maßregeln
gegen falsche Ausfassungen und Verleumdungen zu vertheidigen. In der¬
selben Richtung bewegte sich die Erweiterung des Rechtes, die Regierungs¬
vorlagen zu amendiren, und die Erlaubniß zur Veröffentlichung der Ver¬
handlungen.


Grenzboten III. 1870. 69

Wahrung der Macht aus Gewissensbedenken die Mittel verschmäht hätte,
welche der Verwallungsorganismus ihm im reichsten Maße gewährte und
deren Gebrauch das tief gesunkene öffentliche Sittlichkeitsgefühl ihm gestattete.

Mit dem Gefühl der sittlichen Verantwortlichkeit schwand aber auch das
uneigennützige Rechtsbewußtsein, schwand vor Allem der Sinn für Wahrheit,
die edelste Frucht und zugleich der kräftigste Schutz des männlichen Selbst¬
gefühls in dem Einzelnen, wie in der ganzen Nation. Wo nur die selbst¬
süchtigsten Erwägungen das Verhalten der Parteien bestimmen, wo der
Mangel an Ueberzeugungen durch die schillernde Phrase verhüllt wird, wo
man sich systematisch in eine permanente Leidenschaft hineinredet, die man
(wir erinnern u. A. an Emil von Girardin) zu empfinden viel zu frivol ist,
wo man es selbstverständlich findet, daß im politischen Kampfe jede Waffe,
auch die Verleumdung erlaubt ist, da wird das öffentliche Leben von der Selbst¬
täuschung und von der bewußten Lüge beherrscht, deren vergiftender Wir¬
kung auch edler angelegte Charaktere nicht widerstehen können.

Zu einer kräftigen Reaction gegen den Bonapartismus, der seine Herr¬
schaft ja grade auf der Verkommenheit des politischen Geistes begründet
hatte und dem sittlichen Zustande der Franzosen durchaus adäquat war,
zeigte sich daher Frankreich auch nachdem die Schwächen der auswärtigen kai¬
serlichen Politik ^offenbar geworden waren, nicht fähig. Aber Frankreich
grollte. Eine dumpfe Mißstimmung lastete auf den Gemüthern und die offi¬
ziellen Lobreden und Schmeicheleien nahmen sich fast wie bittere Satyre aus
die Wirklichkeit aus. Sie fanden keinen Anklang im Volke und doch bedürfte
das Kaiserthum, wenn es sein Prestige nicht einbüßen sollte, des lauten Bei¬
falls. Napoleon fand daher schon vor der mexikanischen Expedition, daß "es
Zeit sei, die Zügel wenigstens scheinbar zu lockern. Die völlige Nichtigkeit
des Gesetzgebenden Körpers, die Gleichgiltigkeit, mit der das Volk seine Be¬
rathungen ausnahm, berührten die Regierung selbst peinlich. Napoleon sah
— das spricht er selbst aus — daß es gerathen schien, die Augen der Nation
auf die Berathungen der großen Staatskörper zu lenken, und um den Fran¬
zosen wenigstens ein parlamentarisches Schauspiel zu bieten, wurde dem
Gesetzgebenden Körper das Recht gewährt, die Thronrede mit einer Adresse
zu beantworten; zugleich sollte durch Ernennung von Sprechministern ohne
Portefeuille die Regierung in den Stand gesetzt werden, ihre Maßregeln
gegen falsche Ausfassungen und Verleumdungen zu vertheidigen. In der¬
selben Richtung bewegte sich die Erweiterung des Rechtes, die Regierungs¬
vorlagen zu amendiren, und die Erlaubniß zur Veröffentlichung der Ver¬
handlungen.


Grenzboten III. 1870. 69
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/541>, abgerufen am 29.06.2024.