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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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so schwach ihr Selbstvertraun auch war, begann aufzuathmen. Sie fühlte,
daß die Macht des Kaisers ihren Höhenpunkt überschritten hatte, und sie
wußte aus Erfahrung, wie schwer es in Frankreich einer Regierung, die im
Niedergang begriffen ist und die den Zauber der Allgeroalt eingebüßt hat,
gelingt, sich zu der früheren Höhe wieder emporzuschwingen.

Von einer kräftigen unwiderstehlichen Erhebung des öffentlichen Geistes
gegen den Bonapartismus war freilich noch Nichts zu spüren. Wo war
auch die Quelle, aus der das Volk zu einer Erhebung die Kraft schöpfen
konnte? Der Bonapartismus war ja das Product der inneren Verderbniß,
an der Frankreich seit Jahrhunderten krankte, und die durch die große Re¬
volution nicht geheilt war, sondern nur in anderen Symptomen als unter
dem alten Regime sich kund gab. Die Fehler, an denen das alte Frank¬
reich zu Grunde gegangen war, sie waren in das neue Frankreich von 1789
mit hinübergenommen worden, sie wuchsen üppig empor auf dem mit dem
Schutt und Moder des alten Staates bedeckten Boden. Die Allmacht des
Staates erdrückte die Freiheit in dem Grade, daß die Franzosen selbst das
Verständniß für dieselbe verloren hatten und sich für frei hielten, wenn ihre
Ketten nur mit den dürren Kränzen parlamentarischer Redeblumen umwun¬
den wurden. Was aber den allervcrderblichsten Einfluß auf den Charakter
der Nation ausübte, war, daß unter dem lähmenden Druck der Alles über¬
wuchernden Staatsgewalt dem Einzelnen das Bewußtsein der sittlichen und
politischen Verantwortlichkeit völlig abhanden gekommen war. Es gab und
gibt in Frankreich nur die Eine Verantwortlichkeit des Beamten gegen seinen
Chef. Setzte der Beamte in seinem Kreise die Intentionen des Vorgesetzten
durch, so war seine Stellung gesichert. Mochte der energische erfolgreich
wirken, der Beamte immerhin das Gesetz verletzen, vor einer gerichtlichen
Verfolgung schützte ihn sein Beamtenprivilegium, und der Minister hütete
sich wohl, ihn zu desavouiren, es sei denn, daß er sich nicht blos willkürlich,
sondern zugleich auch einfältig und ungeschickt gezeigt hatte. Natürlich war
die Beamtenwillkür ein Thema, das stets von der Opposition mit besonderer
Vorliebe behandelt wurde und den Ausgangspunkt der erbittertsten Angriffe
gegen die jedesmalige Regierung bildete. Aber es waren das durchweg
Kämpfe mit unehrlichen Waffen. Denn Jedermann wußte, daß die Oppo¬
sition, ans Nuder gelangt, genau ebenso verfahren würde, wie die Meisten,
gegen deren Ausschreitungen sie declarirte. Es war das selbstverständlich;
alle Kämpfe drehten sich um die Macht, die Grundsätze waren nur ein Aus¬
hängeschild. Wer die Macht besaß, mochte er sich conservativ oder liberal
nennen, kannte kein höheres Interesse, als sie zu behaupten, und er würde
sich selbst für einen Narren gehalten haben und von Feinden und Freunden
für einen Narren gehalten worden sein, wenn er in dem Kampf um die Be-


so schwach ihr Selbstvertraun auch war, begann aufzuathmen. Sie fühlte,
daß die Macht des Kaisers ihren Höhenpunkt überschritten hatte, und sie
wußte aus Erfahrung, wie schwer es in Frankreich einer Regierung, die im
Niedergang begriffen ist und die den Zauber der Allgeroalt eingebüßt hat,
gelingt, sich zu der früheren Höhe wieder emporzuschwingen.

Von einer kräftigen unwiderstehlichen Erhebung des öffentlichen Geistes
gegen den Bonapartismus war freilich noch Nichts zu spüren. Wo war
auch die Quelle, aus der das Volk zu einer Erhebung die Kraft schöpfen
konnte? Der Bonapartismus war ja das Product der inneren Verderbniß,
an der Frankreich seit Jahrhunderten krankte, und die durch die große Re¬
volution nicht geheilt war, sondern nur in anderen Symptomen als unter
dem alten Regime sich kund gab. Die Fehler, an denen das alte Frank¬
reich zu Grunde gegangen war, sie waren in das neue Frankreich von 1789
mit hinübergenommen worden, sie wuchsen üppig empor auf dem mit dem
Schutt und Moder des alten Staates bedeckten Boden. Die Allmacht des
Staates erdrückte die Freiheit in dem Grade, daß die Franzosen selbst das
Verständniß für dieselbe verloren hatten und sich für frei hielten, wenn ihre
Ketten nur mit den dürren Kränzen parlamentarischer Redeblumen umwun¬
den wurden. Was aber den allervcrderblichsten Einfluß auf den Charakter
der Nation ausübte, war, daß unter dem lähmenden Druck der Alles über¬
wuchernden Staatsgewalt dem Einzelnen das Bewußtsein der sittlichen und
politischen Verantwortlichkeit völlig abhanden gekommen war. Es gab und
gibt in Frankreich nur die Eine Verantwortlichkeit des Beamten gegen seinen
Chef. Setzte der Beamte in seinem Kreise die Intentionen des Vorgesetzten
durch, so war seine Stellung gesichert. Mochte der energische erfolgreich
wirken, der Beamte immerhin das Gesetz verletzen, vor einer gerichtlichen
Verfolgung schützte ihn sein Beamtenprivilegium, und der Minister hütete
sich wohl, ihn zu desavouiren, es sei denn, daß er sich nicht blos willkürlich,
sondern zugleich auch einfältig und ungeschickt gezeigt hatte. Natürlich war
die Beamtenwillkür ein Thema, das stets von der Opposition mit besonderer
Vorliebe behandelt wurde und den Ausgangspunkt der erbittertsten Angriffe
gegen die jedesmalige Regierung bildete. Aber es waren das durchweg
Kämpfe mit unehrlichen Waffen. Denn Jedermann wußte, daß die Oppo¬
sition, ans Nuder gelangt, genau ebenso verfahren würde, wie die Meisten,
gegen deren Ausschreitungen sie declarirte. Es war das selbstverständlich;
alle Kämpfe drehten sich um die Macht, die Grundsätze waren nur ein Aus¬
hängeschild. Wer die Macht besaß, mochte er sich conservativ oder liberal
nennen, kannte kein höheres Interesse, als sie zu behaupten, und er würde
sich selbst für einen Narren gehalten haben und von Feinden und Freunden
für einen Narren gehalten worden sein, wenn er in dem Kampf um die Be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/540>, abgerufen am 29.06.2024.