Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ersten Seiten zurück und wir hätten so in unserer Durchwanderung einen
ziemlich geschlossenen Kreis beschrieben.

Unsere mittelalterlichen literarischen Sammler und Kenner -- wenn wir sie
so nennen dürfen -- wußten einst, daß der hochberühmte Heinrich von Veldeke,
der traditionelle Vater der gesammten Ritterpoesie, auch eine Legende vom heili¬
gen Servatius geschrieben habe. Das Werk galt bis vor etwa zehn Jahren
für verloren, da entdeckte Bormans in Lüttich eine Handschrift eines altdeut¬
schen Gedichtes mit dem Namen des H. v. V. als Verfasser, enthaltend eben
diese Legende des h. Servatius. Der Herausgeber und Jedermann in Deutsch¬
land war der Meinung, dieser H, v. V. des Servatius sei eben derselbe wie
der aus seiner Eilen und seinen Liedern wohlbekannte Altmeister. In den
Niederlanden war und ist man getheilter Meinung. Die Sprache des Ser¬
vatius und einige andere Umstände stellten ganz sicher heraus, daß sein Ver¬
fasser etwa im heutigen Ltmburgischen heimatberechtigt war. also auf gegen¬
wärtig holländischem oder belgischen Boden. Heinrich v. Veldeke, dieser hoch¬
berühmte deutsche Dichter, ist also eigentlich ein Niederländer und hat die
Sprache seiner Heimat wenigstens in einem seiner Werke gebraucht. Man
begreift, wie sehr dies dem specifisch niederländischen Bewußtsein schmeicheln
durfte, wenn es dabei nur einige wesentliche Umstände übersah, z. B. den,
daß der Dichter, wie wir aus seinem eigenen Munde wissen, immer weiter
von der Peripherie zu dem Centrum des literarischen Deutschlands -- es lag
damals auf der Wartburg -- gezogen wurde und daß er hier seine Eilen
hochdeutsch schrieb, womit er eine neue Epoche der Literatur begründete, wäh¬
rend sein niederdeutscher Servatius verscholl. Ist es nicht, als wenn sich
darin symbolisch die ganze Stellung der niederländischen zu der hochdeutschen
Literatur spiegelte und prophetisch offenbarte? Das fühlte man denn auch
in den Niederlanden und daher verzichtete man lieber quf die Ehre, den
großen Veldeke als Landsmann zu beanspruchen. Zwar der Name Veldeke
steht einmal "baumfest" für den Verfasser des niederdeutschen Servatius.
Aber es kann ja Verschiedene des Namens, auch des Vornamens'Heinrich un-
gefähr zu gleicher Zeit gegeben haben, wer kann das wissen oder wer das
Gegentheil beweisen? Sobald man das annimmt, ist alles in bester Ord¬
nung: der eine hat den nieder!. Servatius, der andere die Eilen geschrieben
und die unkritischen Menschen des Mittelalters haben beide zusammengeworfen.
So ungefähr lautet die Beweisführung, die wir nicht ohne einiges Erstaunen
auch hier bei Jonckbloct finden. Ein deutscher Forscher, gesetzt er wäre auch
ganz in dem gleichen Falle, würde sie wohl schwerlich auf sein kritisches
Gewissen genommen haben. -- Da Veldekes Servatius das unzweifelhaft älteste
erhaltene Denkmal niederländischer Literatur ist, so bleibt selbst für die


67*

ersten Seiten zurück und wir hätten so in unserer Durchwanderung einen
ziemlich geschlossenen Kreis beschrieben.

Unsere mittelalterlichen literarischen Sammler und Kenner — wenn wir sie
so nennen dürfen — wußten einst, daß der hochberühmte Heinrich von Veldeke,
der traditionelle Vater der gesammten Ritterpoesie, auch eine Legende vom heili¬
gen Servatius geschrieben habe. Das Werk galt bis vor etwa zehn Jahren
für verloren, da entdeckte Bormans in Lüttich eine Handschrift eines altdeut¬
schen Gedichtes mit dem Namen des H. v. V. als Verfasser, enthaltend eben
diese Legende des h. Servatius. Der Herausgeber und Jedermann in Deutsch¬
land war der Meinung, dieser H, v. V. des Servatius sei eben derselbe wie
der aus seiner Eilen und seinen Liedern wohlbekannte Altmeister. In den
Niederlanden war und ist man getheilter Meinung. Die Sprache des Ser¬
vatius und einige andere Umstände stellten ganz sicher heraus, daß sein Ver¬
fasser etwa im heutigen Ltmburgischen heimatberechtigt war. also auf gegen¬
wärtig holländischem oder belgischen Boden. Heinrich v. Veldeke, dieser hoch¬
berühmte deutsche Dichter, ist also eigentlich ein Niederländer und hat die
Sprache seiner Heimat wenigstens in einem seiner Werke gebraucht. Man
begreift, wie sehr dies dem specifisch niederländischen Bewußtsein schmeicheln
durfte, wenn es dabei nur einige wesentliche Umstände übersah, z. B. den,
daß der Dichter, wie wir aus seinem eigenen Munde wissen, immer weiter
von der Peripherie zu dem Centrum des literarischen Deutschlands — es lag
damals auf der Wartburg — gezogen wurde und daß er hier seine Eilen
hochdeutsch schrieb, womit er eine neue Epoche der Literatur begründete, wäh¬
rend sein niederdeutscher Servatius verscholl. Ist es nicht, als wenn sich
darin symbolisch die ganze Stellung der niederländischen zu der hochdeutschen
Literatur spiegelte und prophetisch offenbarte? Das fühlte man denn auch
in den Niederlanden und daher verzichtete man lieber quf die Ehre, den
großen Veldeke als Landsmann zu beanspruchen. Zwar der Name Veldeke
steht einmal „baumfest" für den Verfasser des niederdeutschen Servatius.
Aber es kann ja Verschiedene des Namens, auch des Vornamens'Heinrich un-
gefähr zu gleicher Zeit gegeben haben, wer kann das wissen oder wer das
Gegentheil beweisen? Sobald man das annimmt, ist alles in bester Ord¬
nung: der eine hat den nieder!. Servatius, der andere die Eilen geschrieben
und die unkritischen Menschen des Mittelalters haben beide zusammengeworfen.
So ungefähr lautet die Beweisführung, die wir nicht ohne einiges Erstaunen
auch hier bei Jonckbloct finden. Ein deutscher Forscher, gesetzt er wäre auch
ganz in dem gleichen Falle, würde sie wohl schwerlich auf sein kritisches
Gewissen genommen haben. — Da Veldekes Servatius das unzweifelhaft älteste
erhaltene Denkmal niederländischer Literatur ist, so bleibt selbst für die


67*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0527" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124679"/>
          <p xml:id="ID_1525" prev="#ID_1524"> ersten Seiten zurück und wir hätten so in unserer Durchwanderung einen<lb/>
ziemlich geschlossenen Kreis beschrieben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1526" next="#ID_1527"> Unsere mittelalterlichen literarischen Sammler und Kenner &#x2014; wenn wir sie<lb/>
so nennen dürfen &#x2014; wußten einst, daß der hochberühmte Heinrich von Veldeke,<lb/>
der traditionelle Vater der gesammten Ritterpoesie, auch eine Legende vom heili¬<lb/>
gen Servatius geschrieben habe. Das Werk galt bis vor etwa zehn Jahren<lb/>
für verloren, da entdeckte Bormans in Lüttich eine Handschrift eines altdeut¬<lb/>
schen Gedichtes mit dem Namen des H. v. V. als Verfasser, enthaltend eben<lb/>
diese Legende des h. Servatius. Der Herausgeber und Jedermann in Deutsch¬<lb/>
land war der Meinung, dieser H, v. V. des Servatius sei eben derselbe wie<lb/>
der aus seiner Eilen und seinen Liedern wohlbekannte Altmeister. In den<lb/>
Niederlanden war und ist man getheilter Meinung. Die Sprache des Ser¬<lb/>
vatius und einige andere Umstände stellten ganz sicher heraus, daß sein Ver¬<lb/>
fasser etwa im heutigen Ltmburgischen heimatberechtigt war. also auf gegen¬<lb/>
wärtig holländischem oder belgischen Boden. Heinrich v. Veldeke, dieser hoch¬<lb/>
berühmte deutsche Dichter, ist also eigentlich ein Niederländer und hat die<lb/>
Sprache seiner Heimat wenigstens in einem seiner Werke gebraucht. Man<lb/>
begreift, wie sehr dies dem specifisch niederländischen Bewußtsein schmeicheln<lb/>
durfte, wenn es dabei nur einige wesentliche Umstände übersah, z. B. den,<lb/>
daß der Dichter, wie wir aus seinem eigenen Munde wissen, immer weiter<lb/>
von der Peripherie zu dem Centrum des literarischen Deutschlands &#x2014; es lag<lb/>
damals auf der Wartburg &#x2014; gezogen wurde und daß er hier seine Eilen<lb/>
hochdeutsch schrieb, womit er eine neue Epoche der Literatur begründete, wäh¬<lb/>
rend sein niederdeutscher Servatius verscholl. Ist es nicht, als wenn sich<lb/>
darin symbolisch die ganze Stellung der niederländischen zu der hochdeutschen<lb/>
Literatur spiegelte und prophetisch offenbarte? Das fühlte man denn auch<lb/>
in den Niederlanden und daher verzichtete man lieber quf die Ehre, den<lb/>
großen Veldeke als Landsmann zu beanspruchen. Zwar der Name Veldeke<lb/>
steht einmal &#x201E;baumfest" für den Verfasser des niederdeutschen Servatius.<lb/>
Aber es kann ja Verschiedene des Namens, auch des Vornamens'Heinrich un-<lb/>
gefähr zu gleicher Zeit gegeben haben, wer kann das wissen oder wer das<lb/>
Gegentheil beweisen? Sobald man das annimmt, ist alles in bester Ord¬<lb/>
nung: der eine hat den nieder!. Servatius, der andere die Eilen geschrieben<lb/>
und die unkritischen Menschen des Mittelalters haben beide zusammengeworfen.<lb/>
So ungefähr lautet die Beweisführung, die wir nicht ohne einiges Erstaunen<lb/>
auch hier bei Jonckbloct finden. Ein deutscher Forscher, gesetzt er wäre auch<lb/>
ganz in dem gleichen Falle, würde sie wohl schwerlich auf sein kritisches<lb/>
Gewissen genommen haben. &#x2014; Da Veldekes Servatius das unzweifelhaft älteste<lb/>
erhaltene Denkmal niederländischer Literatur ist, so bleibt selbst für die</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 67*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0527] ersten Seiten zurück und wir hätten so in unserer Durchwanderung einen ziemlich geschlossenen Kreis beschrieben. Unsere mittelalterlichen literarischen Sammler und Kenner — wenn wir sie so nennen dürfen — wußten einst, daß der hochberühmte Heinrich von Veldeke, der traditionelle Vater der gesammten Ritterpoesie, auch eine Legende vom heili¬ gen Servatius geschrieben habe. Das Werk galt bis vor etwa zehn Jahren für verloren, da entdeckte Bormans in Lüttich eine Handschrift eines altdeut¬ schen Gedichtes mit dem Namen des H. v. V. als Verfasser, enthaltend eben diese Legende des h. Servatius. Der Herausgeber und Jedermann in Deutsch¬ land war der Meinung, dieser H, v. V. des Servatius sei eben derselbe wie der aus seiner Eilen und seinen Liedern wohlbekannte Altmeister. In den Niederlanden war und ist man getheilter Meinung. Die Sprache des Ser¬ vatius und einige andere Umstände stellten ganz sicher heraus, daß sein Ver¬ fasser etwa im heutigen Ltmburgischen heimatberechtigt war. also auf gegen¬ wärtig holländischem oder belgischen Boden. Heinrich v. Veldeke, dieser hoch¬ berühmte deutsche Dichter, ist also eigentlich ein Niederländer und hat die Sprache seiner Heimat wenigstens in einem seiner Werke gebraucht. Man begreift, wie sehr dies dem specifisch niederländischen Bewußtsein schmeicheln durfte, wenn es dabei nur einige wesentliche Umstände übersah, z. B. den, daß der Dichter, wie wir aus seinem eigenen Munde wissen, immer weiter von der Peripherie zu dem Centrum des literarischen Deutschlands — es lag damals auf der Wartburg — gezogen wurde und daß er hier seine Eilen hochdeutsch schrieb, womit er eine neue Epoche der Literatur begründete, wäh¬ rend sein niederdeutscher Servatius verscholl. Ist es nicht, als wenn sich darin symbolisch die ganze Stellung der niederländischen zu der hochdeutschen Literatur spiegelte und prophetisch offenbarte? Das fühlte man denn auch in den Niederlanden und daher verzichtete man lieber quf die Ehre, den großen Veldeke als Landsmann zu beanspruchen. Zwar der Name Veldeke steht einmal „baumfest" für den Verfasser des niederdeutschen Servatius. Aber es kann ja Verschiedene des Namens, auch des Vornamens'Heinrich un- gefähr zu gleicher Zeit gegeben haben, wer kann das wissen oder wer das Gegentheil beweisen? Sobald man das annimmt, ist alles in bester Ord¬ nung: der eine hat den nieder!. Servatius, der andere die Eilen geschrieben und die unkritischen Menschen des Mittelalters haben beide zusammengeworfen. So ungefähr lautet die Beweisführung, die wir nicht ohne einiges Erstaunen auch hier bei Jonckbloct finden. Ein deutscher Forscher, gesetzt er wäre auch ganz in dem gleichen Falle, würde sie wohl schwerlich auf sein kritisches Gewissen genommen haben. — Da Veldekes Servatius das unzweifelhaft älteste erhaltene Denkmal niederländischer Literatur ist, so bleibt selbst für die 67*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/527
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/527>, abgerufen am 29.06.2024.