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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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halt vom ausschließlich literarischen oder ästhetischen Standpunkt sehr leicht
in die Gefahr kommen, die patriotische Gesinnung der zunächst Betheiligten
arg zu verletzen. Demungeachtet muß es noch einmal gesagt werden, daß
unzählige Kräfte mit aller Anstrengung doch nichts hervorgebracht haben,
was auch nur, nach dem Maßstabe seiner Zeit und Gattung gemessen, über
die Mittelmäßigkeit hervorragte. Den einen Reinaert wird man immer-nur
als eine Ausnahme gelten lassen können, und es ist schon darauf hingewiesen,
daß auch sie nicht so ohne Weiteres zugegeben werden darf. Auch ohne eine
einzige mittelniederländische Zeile wüßten wir uns von der Poesie des Mittel¬
alters ein vollkommen genügendes Bild zu machen. Selbstverständlich ist
aber der literarisch-ästhetische Standpunkt nicht der einzig berechtigte. Sprach-
und Culturgeschichte mit ihren unendlichen Verzweigungen haben dasselbe
Recht wie er und für sie hat jedes Nestchen der Vergangenheit einen Werth,
der für alle Zeiten unzerstörbar ist. Hält man diese verschiedenen Staud¬
punkte reinlich und vorurtheilsfrei auseinander, wie es die deutsche Wissen¬
schaft gründlich versteht, so wird man die Theilnahme der Niederländer
von heute für ihre literarischen Schätze der Vergangenheit durchaus begreif¬
lich finden. Sollen sie aber dazu verwandt werden, um der Gegenwart durch
einen vom Vorurtheil gefärbten Spiegel der Vergangenheit das Wahnbild
einer völligen Eigenart und Selbständigkeit der niederländischen Sprache und
Literatur im glänzendsten Lichte erscheinen zu lassen, so behaupten wir von
unserem deutschen Standpunkte aus, selbst auf die Gefahr, in Amsterdam,
Leyden und Utrecht als ultraannerionslustig verschrieen zu werden, daß man
durch solche kleine Kunststückchen der Wahrheit ebenso wenig wie dem natür¬
lichen Gang der Geschichte ein Schnippchen schlagen kann.

Jonckbloets Buch, wie schon bemerkt, wesentlich im Geiste und mit dem
Rüstzeug der deutschen historischen und linguistischen Forschung geschrie¬
ben, hält sich fern von der kleinlichen Ranküne, anmaßlichen Spöttereien,
hochmüthigen Jnvectiven, welche sehr viele holländische Schriftsteller auch bis
zu dieser Stunde überall da anbringen zu müssen glauben, wo sie irgend etwas
Deutsches im engern Sinn berühren. Möglich, daß dieser kindische Ton auch
einmal verhallt, da er auf deutscher Seite, wie sich eigentlich von selbst ver¬
steht, nicht das mindeste Echo findet. Wünschenswert!) wäre es für beide
Theile, daß es bald geschähe, wenn auch die Holländer dabei zunächst am
meisten zu gewinnen hätten.

Aber, irren wir nicht sehr, so ist wenigstens an einer Stelle selbst ein
Mann wie Jonckbloet durch die localpatriotischen Neigungen des Gemüthes
in der exacten Handhabung wissenschaftlicher Kritik beirrt worden. Da uns
der Fall sehr charakteristisch scheint, sei er hier noch erwähnt, ehe wir von
dem trefflichen Buche Abschied nehmen. Er führt uns zugleich auf seine


halt vom ausschließlich literarischen oder ästhetischen Standpunkt sehr leicht
in die Gefahr kommen, die patriotische Gesinnung der zunächst Betheiligten
arg zu verletzen. Demungeachtet muß es noch einmal gesagt werden, daß
unzählige Kräfte mit aller Anstrengung doch nichts hervorgebracht haben,
was auch nur, nach dem Maßstabe seiner Zeit und Gattung gemessen, über
die Mittelmäßigkeit hervorragte. Den einen Reinaert wird man immer-nur
als eine Ausnahme gelten lassen können, und es ist schon darauf hingewiesen,
daß auch sie nicht so ohne Weiteres zugegeben werden darf. Auch ohne eine
einzige mittelniederländische Zeile wüßten wir uns von der Poesie des Mittel¬
alters ein vollkommen genügendes Bild zu machen. Selbstverständlich ist
aber der literarisch-ästhetische Standpunkt nicht der einzig berechtigte. Sprach-
und Culturgeschichte mit ihren unendlichen Verzweigungen haben dasselbe
Recht wie er und für sie hat jedes Nestchen der Vergangenheit einen Werth,
der für alle Zeiten unzerstörbar ist. Hält man diese verschiedenen Staud¬
punkte reinlich und vorurtheilsfrei auseinander, wie es die deutsche Wissen¬
schaft gründlich versteht, so wird man die Theilnahme der Niederländer
von heute für ihre literarischen Schätze der Vergangenheit durchaus begreif¬
lich finden. Sollen sie aber dazu verwandt werden, um der Gegenwart durch
einen vom Vorurtheil gefärbten Spiegel der Vergangenheit das Wahnbild
einer völligen Eigenart und Selbständigkeit der niederländischen Sprache und
Literatur im glänzendsten Lichte erscheinen zu lassen, so behaupten wir von
unserem deutschen Standpunkte aus, selbst auf die Gefahr, in Amsterdam,
Leyden und Utrecht als ultraannerionslustig verschrieen zu werden, daß man
durch solche kleine Kunststückchen der Wahrheit ebenso wenig wie dem natür¬
lichen Gang der Geschichte ein Schnippchen schlagen kann.

Jonckbloets Buch, wie schon bemerkt, wesentlich im Geiste und mit dem
Rüstzeug der deutschen historischen und linguistischen Forschung geschrie¬
ben, hält sich fern von der kleinlichen Ranküne, anmaßlichen Spöttereien,
hochmüthigen Jnvectiven, welche sehr viele holländische Schriftsteller auch bis
zu dieser Stunde überall da anbringen zu müssen glauben, wo sie irgend etwas
Deutsches im engern Sinn berühren. Möglich, daß dieser kindische Ton auch
einmal verhallt, da er auf deutscher Seite, wie sich eigentlich von selbst ver¬
steht, nicht das mindeste Echo findet. Wünschenswert!) wäre es für beide
Theile, daß es bald geschähe, wenn auch die Holländer dabei zunächst am
meisten zu gewinnen hätten.

Aber, irren wir nicht sehr, so ist wenigstens an einer Stelle selbst ein
Mann wie Jonckbloet durch die localpatriotischen Neigungen des Gemüthes
in der exacten Handhabung wissenschaftlicher Kritik beirrt worden. Da uns
der Fall sehr charakteristisch scheint, sei er hier noch erwähnt, ehe wir von
dem trefflichen Buche Abschied nehmen. Er führt uns zugleich auf seine


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[0526] halt vom ausschließlich literarischen oder ästhetischen Standpunkt sehr leicht in die Gefahr kommen, die patriotische Gesinnung der zunächst Betheiligten arg zu verletzen. Demungeachtet muß es noch einmal gesagt werden, daß unzählige Kräfte mit aller Anstrengung doch nichts hervorgebracht haben, was auch nur, nach dem Maßstabe seiner Zeit und Gattung gemessen, über die Mittelmäßigkeit hervorragte. Den einen Reinaert wird man immer-nur als eine Ausnahme gelten lassen können, und es ist schon darauf hingewiesen, daß auch sie nicht so ohne Weiteres zugegeben werden darf. Auch ohne eine einzige mittelniederländische Zeile wüßten wir uns von der Poesie des Mittel¬ alters ein vollkommen genügendes Bild zu machen. Selbstverständlich ist aber der literarisch-ästhetische Standpunkt nicht der einzig berechtigte. Sprach- und Culturgeschichte mit ihren unendlichen Verzweigungen haben dasselbe Recht wie er und für sie hat jedes Nestchen der Vergangenheit einen Werth, der für alle Zeiten unzerstörbar ist. Hält man diese verschiedenen Staud¬ punkte reinlich und vorurtheilsfrei auseinander, wie es die deutsche Wissen¬ schaft gründlich versteht, so wird man die Theilnahme der Niederländer von heute für ihre literarischen Schätze der Vergangenheit durchaus begreif¬ lich finden. Sollen sie aber dazu verwandt werden, um der Gegenwart durch einen vom Vorurtheil gefärbten Spiegel der Vergangenheit das Wahnbild einer völligen Eigenart und Selbständigkeit der niederländischen Sprache und Literatur im glänzendsten Lichte erscheinen zu lassen, so behaupten wir von unserem deutschen Standpunkte aus, selbst auf die Gefahr, in Amsterdam, Leyden und Utrecht als ultraannerionslustig verschrieen zu werden, daß man durch solche kleine Kunststückchen der Wahrheit ebenso wenig wie dem natür¬ lichen Gang der Geschichte ein Schnippchen schlagen kann. Jonckbloets Buch, wie schon bemerkt, wesentlich im Geiste und mit dem Rüstzeug der deutschen historischen und linguistischen Forschung geschrie¬ ben, hält sich fern von der kleinlichen Ranküne, anmaßlichen Spöttereien, hochmüthigen Jnvectiven, welche sehr viele holländische Schriftsteller auch bis zu dieser Stunde überall da anbringen zu müssen glauben, wo sie irgend etwas Deutsches im engern Sinn berühren. Möglich, daß dieser kindische Ton auch einmal verhallt, da er auf deutscher Seite, wie sich eigentlich von selbst ver¬ steht, nicht das mindeste Echo findet. Wünschenswert!) wäre es für beide Theile, daß es bald geschähe, wenn auch die Holländer dabei zunächst am meisten zu gewinnen hätten. Aber, irren wir nicht sehr, so ist wenigstens an einer Stelle selbst ein Mann wie Jonckbloet durch die localpatriotischen Neigungen des Gemüthes in der exacten Handhabung wissenschaftlicher Kritik beirrt worden. Da uns der Fall sehr charakteristisch scheint, sei er hier noch erwähnt, ehe wir von dem trefflichen Buche Abschied nehmen. Er führt uns zugleich auf seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/526>, abgerufen am 29.06.2024.