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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Gröningen solche Genossenschaften, und auch sie nahmen bald eifrig und
allgemein Partei für die Reformation gegen die politische und religiöse
spanische Tyrannei. Der Norden setzte seine abgenöthigte Vertheidigung
gegen Beide mit dem Schwerte in der Hand durch und wurde unmerklich aus
einem vorwiegend protestantisch gesinnten Lande die erste active protestantische
Großmacht der Zeit. Demgemäß treten auch die Rederijker daselbst viel entschie¬
dener, als es jemals ihren Genossen im Süden möglich geworden, für die neue
Lehre in die Schranken, und damit erreichten sie den Höhepunkt ihres Daseins.
Denn wie überall, so hatte auch hier der Sieg der Reformation ein Hervor¬
brechen dogmatischer Differenzen und Sectenstreitigkeiten in seinem unmittel¬
baren Gefolge. Auch daran betheiligten sie sich und zwar mit demselben
grenzenlosen Fanatismus, derselben hartnäckigen Verranntheit, die damals
den ganzen deutschen Volksgeist völlig verwandelt zu haben schien, sobald
er mit solchen Dingen sich befaßte. Die Folge davon war, daß sie unter
sich selbst aufs tiefste zerspalten wurden und wenn auch die Mehrzahl den
gemäßigteren dogmatischen Richtungen angehörte, so war die Minderzahl
um so fanatischer ultraorthodox. Als sich mit der Dortrechter Synode 1618
der officielle Sieg der letzteren Partei in den Generalstaten und in den
einzelnen politischen Corporationen entschied, gingen die orthodoxen Obrig-
keiten überall den Kammern zu Leibe; wenn sie sie auch nur in seltenen
Fällen ganz schlössen, so wußten sie ihnen doch durch Vexationen aller Art
das Leben unmöglich zu machen. Auf diese Art kam es, daß sie, nur aus
anderer Ursache wie im Süden, auch hier ungefähr zu derselben Zeit verkamen.

Unsere bescheidenen Meistersinger sind eben wegen ihrer Bescheidenheit
glücklicher gewesen. Noch im 17. Jahrhundert führten sie an einigen Orten,
voran Nürnberg, auch neben den prunkvollen literarischen Genossenschaften der
neuen gelehrten Aera, der Fruchtbringenden, der Schäferei an der Pegnitz ein
ganz geachtetes Leben und trugen wesentlich dazu bei, die letzten Reste der
alten bürgerlichen Solidität und Bildung, soweit sie sich durch den dreißigjäh¬
rigen Krieg hindurch gerettet hatten, weiter zu pflegen und einer besseren Zukunft
entgegenzuführen. Für die deutsche Literatur haben sie auch damals so
wenig wie zu irgend einer anderen Zeit geleistet, aber auch ihre Brüder
von der Rhetorika können uns kein Tüttelchen mehr aufweisen. Ja wenn
man Hans Sachs jenen zurechnen wollte, wie er wirklich ein Meister der
Nürnberger Singschule war, so würde sich die Rechnung noch ganz anders
stellen. Denn der eine Hans Sachs wiegt an wahrem poetischen Gehalt
und Verdienst nicht blos sämmtliche Leistungen der Rederijker, sondern der
gesammten älteren niederländischen Poesie mehr als einmal auf.

Ihre größte Popularität haben die Rederijker unmittelbar vor ihrem
Untergange erlangt. In den ersten Jahrzehnten der zweiten Hälfte des 16.


Gröningen solche Genossenschaften, und auch sie nahmen bald eifrig und
allgemein Partei für die Reformation gegen die politische und religiöse
spanische Tyrannei. Der Norden setzte seine abgenöthigte Vertheidigung
gegen Beide mit dem Schwerte in der Hand durch und wurde unmerklich aus
einem vorwiegend protestantisch gesinnten Lande die erste active protestantische
Großmacht der Zeit. Demgemäß treten auch die Rederijker daselbst viel entschie¬
dener, als es jemals ihren Genossen im Süden möglich geworden, für die neue
Lehre in die Schranken, und damit erreichten sie den Höhepunkt ihres Daseins.
Denn wie überall, so hatte auch hier der Sieg der Reformation ein Hervor¬
brechen dogmatischer Differenzen und Sectenstreitigkeiten in seinem unmittel¬
baren Gefolge. Auch daran betheiligten sie sich und zwar mit demselben
grenzenlosen Fanatismus, derselben hartnäckigen Verranntheit, die damals
den ganzen deutschen Volksgeist völlig verwandelt zu haben schien, sobald
er mit solchen Dingen sich befaßte. Die Folge davon war, daß sie unter
sich selbst aufs tiefste zerspalten wurden und wenn auch die Mehrzahl den
gemäßigteren dogmatischen Richtungen angehörte, so war die Minderzahl
um so fanatischer ultraorthodox. Als sich mit der Dortrechter Synode 1618
der officielle Sieg der letzteren Partei in den Generalstaten und in den
einzelnen politischen Corporationen entschied, gingen die orthodoxen Obrig-
keiten überall den Kammern zu Leibe; wenn sie sie auch nur in seltenen
Fällen ganz schlössen, so wußten sie ihnen doch durch Vexationen aller Art
das Leben unmöglich zu machen. Auf diese Art kam es, daß sie, nur aus
anderer Ursache wie im Süden, auch hier ungefähr zu derselben Zeit verkamen.

Unsere bescheidenen Meistersinger sind eben wegen ihrer Bescheidenheit
glücklicher gewesen. Noch im 17. Jahrhundert führten sie an einigen Orten,
voran Nürnberg, auch neben den prunkvollen literarischen Genossenschaften der
neuen gelehrten Aera, der Fruchtbringenden, der Schäferei an der Pegnitz ein
ganz geachtetes Leben und trugen wesentlich dazu bei, die letzten Reste der
alten bürgerlichen Solidität und Bildung, soweit sie sich durch den dreißigjäh¬
rigen Krieg hindurch gerettet hatten, weiter zu pflegen und einer besseren Zukunft
entgegenzuführen. Für die deutsche Literatur haben sie auch damals so
wenig wie zu irgend einer anderen Zeit geleistet, aber auch ihre Brüder
von der Rhetorika können uns kein Tüttelchen mehr aufweisen. Ja wenn
man Hans Sachs jenen zurechnen wollte, wie er wirklich ein Meister der
Nürnberger Singschule war, so würde sich die Rechnung noch ganz anders
stellen. Denn der eine Hans Sachs wiegt an wahrem poetischen Gehalt
und Verdienst nicht blos sämmtliche Leistungen der Rederijker, sondern der
gesammten älteren niederländischen Poesie mehr als einmal auf.

Ihre größte Popularität haben die Rederijker unmittelbar vor ihrem
Untergange erlangt. In den ersten Jahrzehnten der zweiten Hälfte des 16.


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[0523] Gröningen solche Genossenschaften, und auch sie nahmen bald eifrig und allgemein Partei für die Reformation gegen die politische und religiöse spanische Tyrannei. Der Norden setzte seine abgenöthigte Vertheidigung gegen Beide mit dem Schwerte in der Hand durch und wurde unmerklich aus einem vorwiegend protestantisch gesinnten Lande die erste active protestantische Großmacht der Zeit. Demgemäß treten auch die Rederijker daselbst viel entschie¬ dener, als es jemals ihren Genossen im Süden möglich geworden, für die neue Lehre in die Schranken, und damit erreichten sie den Höhepunkt ihres Daseins. Denn wie überall, so hatte auch hier der Sieg der Reformation ein Hervor¬ brechen dogmatischer Differenzen und Sectenstreitigkeiten in seinem unmittel¬ baren Gefolge. Auch daran betheiligten sie sich und zwar mit demselben grenzenlosen Fanatismus, derselben hartnäckigen Verranntheit, die damals den ganzen deutschen Volksgeist völlig verwandelt zu haben schien, sobald er mit solchen Dingen sich befaßte. Die Folge davon war, daß sie unter sich selbst aufs tiefste zerspalten wurden und wenn auch die Mehrzahl den gemäßigteren dogmatischen Richtungen angehörte, so war die Minderzahl um so fanatischer ultraorthodox. Als sich mit der Dortrechter Synode 1618 der officielle Sieg der letzteren Partei in den Generalstaten und in den einzelnen politischen Corporationen entschied, gingen die orthodoxen Obrig- keiten überall den Kammern zu Leibe; wenn sie sie auch nur in seltenen Fällen ganz schlössen, so wußten sie ihnen doch durch Vexationen aller Art das Leben unmöglich zu machen. Auf diese Art kam es, daß sie, nur aus anderer Ursache wie im Süden, auch hier ungefähr zu derselben Zeit verkamen. Unsere bescheidenen Meistersinger sind eben wegen ihrer Bescheidenheit glücklicher gewesen. Noch im 17. Jahrhundert führten sie an einigen Orten, voran Nürnberg, auch neben den prunkvollen literarischen Genossenschaften der neuen gelehrten Aera, der Fruchtbringenden, der Schäferei an der Pegnitz ein ganz geachtetes Leben und trugen wesentlich dazu bei, die letzten Reste der alten bürgerlichen Solidität und Bildung, soweit sie sich durch den dreißigjäh¬ rigen Krieg hindurch gerettet hatten, weiter zu pflegen und einer besseren Zukunft entgegenzuführen. Für die deutsche Literatur haben sie auch damals so wenig wie zu irgend einer anderen Zeit geleistet, aber auch ihre Brüder von der Rhetorika können uns kein Tüttelchen mehr aufweisen. Ja wenn man Hans Sachs jenen zurechnen wollte, wie er wirklich ein Meister der Nürnberger Singschule war, so würde sich die Rechnung noch ganz anders stellen. Denn der eine Hans Sachs wiegt an wahrem poetischen Gehalt und Verdienst nicht blos sämmtliche Leistungen der Rederijker, sondern der gesammten älteren niederländischen Poesie mehr als einmal auf. Ihre größte Popularität haben die Rederijker unmittelbar vor ihrem Untergange erlangt. In den ersten Jahrzehnten der zweiten Hälfte des 16.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/523>, abgerufen am 29.06.2024.