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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Congresse wohl niemand im Herzen an ausgleichende Abwägung der Kräfte
gedacht. Es hat in Europa niemals ein Gleichgewicht gegeben, denn das
würde die gegenseitige Aufhebung aller bewegenden Kräfte, d. h. die absolute
Leblosigkeit bezeichnen. So gewiß es aber immer Leben und Bewegung in
unserem Erdtheile gab, so gewiß gab es auch immer vorwiegende Mächte,
die der jeweiligen Bewegung die Richtung anwiesen. Diese Mächte freilich
wechseln ab, und wie am Schlüsse seiner Charakteristik Richelieu's Ranke mit
Recht ausruft: "Die Epoche von Spanien war vorüber, die Epoche von
Frankreich war heraufgeführt", so wird der künftige Historiker die Bedeutung
unserer Tage in eine ähnliche Formel zusammenfassen dürfen, die den Ueber¬
gang europäischer Vormacht von Paris nach Berlin ausdrückt. Der Noth¬
schrei der Franzosen nach dem Gleichgewicht verräth daher nur ihren Zorn
über diesen Uebergang, der sich freilich schon lange vor dem Kriege, wie eben
die Ziffern der Volksvermehrung lehren, friedlich zu vollziehen begann, um
nun durch den Krieg vollendet zu werden. Aber auch als Phrase ist das
Feldgeschrei "Gleichgewicht" schlecht gewählt, da es beim Wort genommen,
um nur den nationalen Egoismus zu befriedigen, den Stillstand der ganzen
europäischen Entwicklung proclamirt. Wir Deutsche werden diese "dürftige
Maske der Heuchelei" verschmähen, wir werden getrost bekennen, daß wir
nun das Uebergewicht in Europa besitzen und diesen Besitz durch sittlichen
Gebrauch zum Heile des Ganzen rechtfertigen. --

In anderen Abschnitten seines Büchleins beseitigt Wagner mit über¬
zeugender Beredsamkeit die deutschen Annexionsbedenken und insbesondere
das wohl höchstens noch bei einigen unserer Radicalen oder verhärteten
Augustenburgern beliebte Princip des Selbstbestimmungsrechtes nationaler
Bruchtheile wie der Elsässer und Lothringer. Wer von den Lesern dieser
Blätter darüber noch einen Rest quälender Zweifel fühlen sollte, sei direct an
Wagners klare und warme Widerlegung gewiesen. Zur Abgrenzung seiner
Rückforderungen für Deutschland dient ihm als Richtschnur lediglich das
Nationalitätspnncip, von historischen Sentimentalitäten und erinnerungs¬
seliger Reichsschwärmerei ist auch er gänzlich frei, wie es von einem Natio¬
nalökonomen, der das Recht der Lebenden kennt, nicht anders zu erwarten
ist. Die heutige Sprachgrenze des platten Landes will er zur Staatsgrenze
erhoben sehen, nur mit sehr dringenden Ausnahmen militärischen Bedürf¬
nisses. Diese zu bestimmen stellt er bescheiden unseren Strategen anheim,
hat aber in Bezug aus Belfort und vor allem auf die compacte Franzosen¬
masse von Metz seine ernsten Bedenken. Hinsichtlich des letzteren wenigstens
glaubten wir, freilich auch nur als Laien, die Bedürfnißfrage getrost bejahen
zu müssen, empfahlen jedoch zwischen Metz und den Vogesen die knappste
Linie als die zweckmäßigste. Es scheint heute, daß unsere Regierenden sich


Congresse wohl niemand im Herzen an ausgleichende Abwägung der Kräfte
gedacht. Es hat in Europa niemals ein Gleichgewicht gegeben, denn das
würde die gegenseitige Aufhebung aller bewegenden Kräfte, d. h. die absolute
Leblosigkeit bezeichnen. So gewiß es aber immer Leben und Bewegung in
unserem Erdtheile gab, so gewiß gab es auch immer vorwiegende Mächte,
die der jeweiligen Bewegung die Richtung anwiesen. Diese Mächte freilich
wechseln ab, und wie am Schlüsse seiner Charakteristik Richelieu's Ranke mit
Recht ausruft: „Die Epoche von Spanien war vorüber, die Epoche von
Frankreich war heraufgeführt", so wird der künftige Historiker die Bedeutung
unserer Tage in eine ähnliche Formel zusammenfassen dürfen, die den Ueber¬
gang europäischer Vormacht von Paris nach Berlin ausdrückt. Der Noth¬
schrei der Franzosen nach dem Gleichgewicht verräth daher nur ihren Zorn
über diesen Uebergang, der sich freilich schon lange vor dem Kriege, wie eben
die Ziffern der Volksvermehrung lehren, friedlich zu vollziehen begann, um
nun durch den Krieg vollendet zu werden. Aber auch als Phrase ist das
Feldgeschrei „Gleichgewicht" schlecht gewählt, da es beim Wort genommen,
um nur den nationalen Egoismus zu befriedigen, den Stillstand der ganzen
europäischen Entwicklung proclamirt. Wir Deutsche werden diese „dürftige
Maske der Heuchelei" verschmähen, wir werden getrost bekennen, daß wir
nun das Uebergewicht in Europa besitzen und diesen Besitz durch sittlichen
Gebrauch zum Heile des Ganzen rechtfertigen. —

In anderen Abschnitten seines Büchleins beseitigt Wagner mit über¬
zeugender Beredsamkeit die deutschen Annexionsbedenken und insbesondere
das wohl höchstens noch bei einigen unserer Radicalen oder verhärteten
Augustenburgern beliebte Princip des Selbstbestimmungsrechtes nationaler
Bruchtheile wie der Elsässer und Lothringer. Wer von den Lesern dieser
Blätter darüber noch einen Rest quälender Zweifel fühlen sollte, sei direct an
Wagners klare und warme Widerlegung gewiesen. Zur Abgrenzung seiner
Rückforderungen für Deutschland dient ihm als Richtschnur lediglich das
Nationalitätspnncip, von historischen Sentimentalitäten und erinnerungs¬
seliger Reichsschwärmerei ist auch er gänzlich frei, wie es von einem Natio¬
nalökonomen, der das Recht der Lebenden kennt, nicht anders zu erwarten
ist. Die heutige Sprachgrenze des platten Landes will er zur Staatsgrenze
erhoben sehen, nur mit sehr dringenden Ausnahmen militärischen Bedürf¬
nisses. Diese zu bestimmen stellt er bescheiden unseren Strategen anheim,
hat aber in Bezug aus Belfort und vor allem auf die compacte Franzosen¬
masse von Metz seine ernsten Bedenken. Hinsichtlich des letzteren wenigstens
glaubten wir, freilich auch nur als Laien, die Bedürfnißfrage getrost bejahen
zu müssen, empfahlen jedoch zwischen Metz und den Vogesen die knappste
Linie als die zweckmäßigste. Es scheint heute, daß unsere Regierenden sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/505>, abgerufen am 29.06.2024.