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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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für die Hinterbliebenen der im Jahre 1870 gefallenen deutschen Krieger be¬
stimmt ist. Eine Flugschrift in tiefbewegter Zeit will -- mehr als sonst das
gediegenste gelehrte Werk -- durchaus selbst gelesen werden; wir würden
zudem den lebendigen Hauch männlichen Zornes, der das Ganze durchweht,
nur ersticken, wollten wir versuchen, Wagner's Gedankengang hier vollständig
wiederzugeben; es wird hinreichen, auf einige eigenthümliche Bemerkungen,
die ihm seine Fachwissenschaft an die Hand gibt, sowie andrerseits auf die
wenigen Punkte die Aufmerksamkeit zu lenken, in denen seine Ansichten von
unseren eigenen, wie wir sie in Ur. 36 und 37 d. Bl. ausgesprochen haben,
erheblicher abweichen.

Nachdem der Verfasser im ersten Kapitel dargethan, daß wir "gegen
Frankreich, nicht gegen Napoleon" unsere Sache ausfechten, -- ein Nachweis,
dessen uns Alle seit dem 4. September die neue Republik von der traurigen
Gestalt zwar nicht durch Worte, umso mehr aber durch ihre Thaten über¬
hoben, -- fertigt er in einem zweiten Abschnitte die französischen Annexions¬
gründe schlagend ab. Hier nun ist das merkwürdigste der zahlenmäßige
Nachweis einer meist nur schlechthin bekannten Thatsache, daß nämlich durch
die relativ auffallend geringe Volksvermehrung in Frankreich immerfort und
ganz abgesehen von allen territorialen Vergrößerungen der Nachbarn das 1815
mit so vieler Mühe hergestellte sogenannte Gleichgewicht der europäischen
Mächte zu Ungunsten der Franzosen gestört worden ist und voraussichtlich
noch weiter"gestört werden wird. Ganz besonders nun hat da Norddeutsch¬
land Frankreich gegenüber einen gewaltigen Vorsprung gewonnen, während
unsere Südstaaten ein wenig selbst hinter Frankreich zurückgeblieben sind.
Es ist eine feine Bemerkung Wagner's, daß hieraus auch der Gang, den
unsere innere deutsche Schicksalsbewegung in diesem Jahrhundert eingeschlagen
hat, eine neue Beleuchtung gewinne. Auch darin irrt er wohl nicht, daß
ein instinctives Gefühl von der spontanen Abnahme der eigenen Volkskraft
mächtig dazu mitwirke, die rohen Vergrößerungsgelüste unserer Nachbarn zu
steigern. Die Franzosen müßten also nach der Lehre von der Nothwendig¬
keit des europäischen Gleichgewichts allerdings von uns ebensogut Revanche
für die größere Fruchtbarkeit unserer Ehen fordern, wie für Sadowa. Es
scheint uns dabei an der Zeit, überhaupt einmal gründlich auch theoretisch
mit dieser Gleichgewichtsphrase aufzuräumen. In dieser Menschenwelt des
Lebens und der Arbeit nach der todten mechanischen Abstraction eines xor"
xetuum stabile zu suchen ist nicht minder albern, als dem Hirngespinnst
eines perxewum mobile im Bereiche der natürlichen Einzelkörper nachzujagen.
Jeder Versuch, das Gleichgewicht der Mächte wirklich herzustellen, würde
einen genau ebenso dauerhaften Erfolg haben wie die von den Communisten
ersehnte gleichmäßige Vermögenstheilung. Auch hat selbst auf dem Wiener


für die Hinterbliebenen der im Jahre 1870 gefallenen deutschen Krieger be¬
stimmt ist. Eine Flugschrift in tiefbewegter Zeit will — mehr als sonst das
gediegenste gelehrte Werk — durchaus selbst gelesen werden; wir würden
zudem den lebendigen Hauch männlichen Zornes, der das Ganze durchweht,
nur ersticken, wollten wir versuchen, Wagner's Gedankengang hier vollständig
wiederzugeben; es wird hinreichen, auf einige eigenthümliche Bemerkungen,
die ihm seine Fachwissenschaft an die Hand gibt, sowie andrerseits auf die
wenigen Punkte die Aufmerksamkeit zu lenken, in denen seine Ansichten von
unseren eigenen, wie wir sie in Ur. 36 und 37 d. Bl. ausgesprochen haben,
erheblicher abweichen.

Nachdem der Verfasser im ersten Kapitel dargethan, daß wir „gegen
Frankreich, nicht gegen Napoleon" unsere Sache ausfechten, — ein Nachweis,
dessen uns Alle seit dem 4. September die neue Republik von der traurigen
Gestalt zwar nicht durch Worte, umso mehr aber durch ihre Thaten über¬
hoben, — fertigt er in einem zweiten Abschnitte die französischen Annexions¬
gründe schlagend ab. Hier nun ist das merkwürdigste der zahlenmäßige
Nachweis einer meist nur schlechthin bekannten Thatsache, daß nämlich durch
die relativ auffallend geringe Volksvermehrung in Frankreich immerfort und
ganz abgesehen von allen territorialen Vergrößerungen der Nachbarn das 1815
mit so vieler Mühe hergestellte sogenannte Gleichgewicht der europäischen
Mächte zu Ungunsten der Franzosen gestört worden ist und voraussichtlich
noch weiter"gestört werden wird. Ganz besonders nun hat da Norddeutsch¬
land Frankreich gegenüber einen gewaltigen Vorsprung gewonnen, während
unsere Südstaaten ein wenig selbst hinter Frankreich zurückgeblieben sind.
Es ist eine feine Bemerkung Wagner's, daß hieraus auch der Gang, den
unsere innere deutsche Schicksalsbewegung in diesem Jahrhundert eingeschlagen
hat, eine neue Beleuchtung gewinne. Auch darin irrt er wohl nicht, daß
ein instinctives Gefühl von der spontanen Abnahme der eigenen Volkskraft
mächtig dazu mitwirke, die rohen Vergrößerungsgelüste unserer Nachbarn zu
steigern. Die Franzosen müßten also nach der Lehre von der Nothwendig¬
keit des europäischen Gleichgewichts allerdings von uns ebensogut Revanche
für die größere Fruchtbarkeit unserer Ehen fordern, wie für Sadowa. Es
scheint uns dabei an der Zeit, überhaupt einmal gründlich auch theoretisch
mit dieser Gleichgewichtsphrase aufzuräumen. In dieser Menschenwelt des
Lebens und der Arbeit nach der todten mechanischen Abstraction eines xor»
xetuum stabile zu suchen ist nicht minder albern, als dem Hirngespinnst
eines perxewum mobile im Bereiche der natürlichen Einzelkörper nachzujagen.
Jeder Versuch, das Gleichgewicht der Mächte wirklich herzustellen, würde
einen genau ebenso dauerhaften Erfolg haben wie die von den Communisten
ersehnte gleichmäßige Vermögenstheilung. Auch hat selbst auf dem Wiener


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[0504] für die Hinterbliebenen der im Jahre 1870 gefallenen deutschen Krieger be¬ stimmt ist. Eine Flugschrift in tiefbewegter Zeit will — mehr als sonst das gediegenste gelehrte Werk — durchaus selbst gelesen werden; wir würden zudem den lebendigen Hauch männlichen Zornes, der das Ganze durchweht, nur ersticken, wollten wir versuchen, Wagner's Gedankengang hier vollständig wiederzugeben; es wird hinreichen, auf einige eigenthümliche Bemerkungen, die ihm seine Fachwissenschaft an die Hand gibt, sowie andrerseits auf die wenigen Punkte die Aufmerksamkeit zu lenken, in denen seine Ansichten von unseren eigenen, wie wir sie in Ur. 36 und 37 d. Bl. ausgesprochen haben, erheblicher abweichen. Nachdem der Verfasser im ersten Kapitel dargethan, daß wir „gegen Frankreich, nicht gegen Napoleon" unsere Sache ausfechten, — ein Nachweis, dessen uns Alle seit dem 4. September die neue Republik von der traurigen Gestalt zwar nicht durch Worte, umso mehr aber durch ihre Thaten über¬ hoben, — fertigt er in einem zweiten Abschnitte die französischen Annexions¬ gründe schlagend ab. Hier nun ist das merkwürdigste der zahlenmäßige Nachweis einer meist nur schlechthin bekannten Thatsache, daß nämlich durch die relativ auffallend geringe Volksvermehrung in Frankreich immerfort und ganz abgesehen von allen territorialen Vergrößerungen der Nachbarn das 1815 mit so vieler Mühe hergestellte sogenannte Gleichgewicht der europäischen Mächte zu Ungunsten der Franzosen gestört worden ist und voraussichtlich noch weiter"gestört werden wird. Ganz besonders nun hat da Norddeutsch¬ land Frankreich gegenüber einen gewaltigen Vorsprung gewonnen, während unsere Südstaaten ein wenig selbst hinter Frankreich zurückgeblieben sind. Es ist eine feine Bemerkung Wagner's, daß hieraus auch der Gang, den unsere innere deutsche Schicksalsbewegung in diesem Jahrhundert eingeschlagen hat, eine neue Beleuchtung gewinne. Auch darin irrt er wohl nicht, daß ein instinctives Gefühl von der spontanen Abnahme der eigenen Volkskraft mächtig dazu mitwirke, die rohen Vergrößerungsgelüste unserer Nachbarn zu steigern. Die Franzosen müßten also nach der Lehre von der Nothwendig¬ keit des europäischen Gleichgewichts allerdings von uns ebensogut Revanche für die größere Fruchtbarkeit unserer Ehen fordern, wie für Sadowa. Es scheint uns dabei an der Zeit, überhaupt einmal gründlich auch theoretisch mit dieser Gleichgewichtsphrase aufzuräumen. In dieser Menschenwelt des Lebens und der Arbeit nach der todten mechanischen Abstraction eines xor» xetuum stabile zu suchen ist nicht minder albern, als dem Hirngespinnst eines perxewum mobile im Bereiche der natürlichen Einzelkörper nachzujagen. Jeder Versuch, das Gleichgewicht der Mächte wirklich herzustellen, würde einen genau ebenso dauerhaften Erfolg haben wie die von den Communisten ersehnte gleichmäßige Vermögenstheilung. Auch hat selbst auf dem Wiener

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/504>, abgerufen am 29.06.2024.