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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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schen Volksgeistes erhebt den Reinaert zu der einzigen wirklich originellen
und wenn man will classischen Schöpfung der gesammten niederländischen
Literatur des Mittelalters. Denn jene bürgerliche Verskunst eines Maer-
lant, de Clerk, Dirk Potter und anderer steht zwar auf derselben Höhe wie
die unseres Hug von Trimberg, Teichner, Hans Vintler, aber sie enthält nur
bürgerlich-prosaische Lehrstoffe in dem herkömmlichen poetischen Gewände.
Von der poetischen Beseelung eines Freidank, Thomasin, Winsbeke zeigt
sie keine Spur. Nur das eigentliche Volkslied, das hier wie im übrigen
Deutschland und aus demselben Grunde seit dem 14. Jahrhundert erwuchs,
bezeugt, daß auch in einer eminent prosaischen Zeit immer noch in der Tiefe
eine Ader von Poesie quillt. Aber es ist unmöglich, zu bestimmen, woher
die sie nährenden einzelnen Tropfen stammen. --

Wie in Deutschland hat auch in den Niederlanden das ausklingende
Mittelalter eine Fülle dramatischer Erzeugnisse hervorgebracht. Sie stehen
mit dem einen Fuß in der alten Zeit, mit dem andern in der neuen. Der
Geist der mittelalterlichen Kunst ist hier so wenig wie anderwärts für diese
Art der Poesie eigentlich angelegt gewesen, doch hätte er nicht der eines
farbenfrohen, von Lebenskraft und Lebenslust geschwellten Volkes sein müssen,
wie er es war, wenn er nicht gleichsam gegen seine eigene Natur fortwährend
nach den anschaulichsten, am meisten auf die Phantasie wirkenden Dar¬
stellungsmitteln Samischer Aufführung hingedrängt hätte. So wimmelt es
in allen Perioden des Mittelalters von naturalistischen Versuchen darin;
bei allen Festlichkeiten, allen Gelagen, namentlich aber da, wo nicht blos
die höheren Stände, sondern auch das eigentliche Volk sich als Festgeber
und Festgast in einer Person geriren konnte, werden Schauspiele und Schau"
Spieler unter den verschiedensten Namen erwähnt. Alle diejenigen, von deren
Händen damals allein die Feder der Geschichtschreibung geführt wurde, waren
mit einer nur in diesem einen Punkte erscheinenden Einstimmigkeit überzeugt,
daß das gesammte Schauspielwesen eine mindestens sehr gefährliche, gewöhn¬
lich eine direct gottlose Sache sei, aber sie vermochten doch nicht es auszu¬
rotten. Ja die Kirche, welche sich damals mit dem Volksgeist so zu sagen
immer auf dem Laufenden erhielt und ihm so weit als möglich Concessionen
machte unter der stillschweigenden Bedingung, daß er ihr in seiner ganzen
übrigen Sphäre Unterthan sei, nahm einen Theil dieses dramatischen Triebes
unter ihr Patronat. So entstand das geistliche Volksschauspiel, das schon
im Hochmittelalter, im 12. und 13. Jahrhundert überall in Europa eine
vollkommen anerkannte, in das eigentlich christliche Volksleben aufgenommene
Thatsache war. Aber niemals ist es auch nur entfernt zu jener Höhe künst¬
lerischer Ausbildung gelangt, welche gleichzeitig und an denselben Orten die
Epik und Lyrik erstiegen. Kein einziger der Hunderte von namhaften Dich-


schen Volksgeistes erhebt den Reinaert zu der einzigen wirklich originellen
und wenn man will classischen Schöpfung der gesammten niederländischen
Literatur des Mittelalters. Denn jene bürgerliche Verskunst eines Maer-
lant, de Clerk, Dirk Potter und anderer steht zwar auf derselben Höhe wie
die unseres Hug von Trimberg, Teichner, Hans Vintler, aber sie enthält nur
bürgerlich-prosaische Lehrstoffe in dem herkömmlichen poetischen Gewände.
Von der poetischen Beseelung eines Freidank, Thomasin, Winsbeke zeigt
sie keine Spur. Nur das eigentliche Volkslied, das hier wie im übrigen
Deutschland und aus demselben Grunde seit dem 14. Jahrhundert erwuchs,
bezeugt, daß auch in einer eminent prosaischen Zeit immer noch in der Tiefe
eine Ader von Poesie quillt. Aber es ist unmöglich, zu bestimmen, woher
die sie nährenden einzelnen Tropfen stammen. —

Wie in Deutschland hat auch in den Niederlanden das ausklingende
Mittelalter eine Fülle dramatischer Erzeugnisse hervorgebracht. Sie stehen
mit dem einen Fuß in der alten Zeit, mit dem andern in der neuen. Der
Geist der mittelalterlichen Kunst ist hier so wenig wie anderwärts für diese
Art der Poesie eigentlich angelegt gewesen, doch hätte er nicht der eines
farbenfrohen, von Lebenskraft und Lebenslust geschwellten Volkes sein müssen,
wie er es war, wenn er nicht gleichsam gegen seine eigene Natur fortwährend
nach den anschaulichsten, am meisten auf die Phantasie wirkenden Dar¬
stellungsmitteln Samischer Aufführung hingedrängt hätte. So wimmelt es
in allen Perioden des Mittelalters von naturalistischen Versuchen darin;
bei allen Festlichkeiten, allen Gelagen, namentlich aber da, wo nicht blos
die höheren Stände, sondern auch das eigentliche Volk sich als Festgeber
und Festgast in einer Person geriren konnte, werden Schauspiele und Schau»
Spieler unter den verschiedensten Namen erwähnt. Alle diejenigen, von deren
Händen damals allein die Feder der Geschichtschreibung geführt wurde, waren
mit einer nur in diesem einen Punkte erscheinenden Einstimmigkeit überzeugt,
daß das gesammte Schauspielwesen eine mindestens sehr gefährliche, gewöhn¬
lich eine direct gottlose Sache sei, aber sie vermochten doch nicht es auszu¬
rotten. Ja die Kirche, welche sich damals mit dem Volksgeist so zu sagen
immer auf dem Laufenden erhielt und ihm so weit als möglich Concessionen
machte unter der stillschweigenden Bedingung, daß er ihr in seiner ganzen
übrigen Sphäre Unterthan sei, nahm einen Theil dieses dramatischen Triebes
unter ihr Patronat. So entstand das geistliche Volksschauspiel, das schon
im Hochmittelalter, im 12. und 13. Jahrhundert überall in Europa eine
vollkommen anerkannte, in das eigentlich christliche Volksleben aufgenommene
Thatsache war. Aber niemals ist es auch nur entfernt zu jener Höhe künst¬
lerischer Ausbildung gelangt, welche gleichzeitig und an denselben Orten die
Epik und Lyrik erstiegen. Kein einziger der Hunderte von namhaften Dich-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/482>, abgerufen am 28.09.2024.