Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

mit einer einzigen und noch dazu bedingten Ausnahme nichts vom ersten
Range. Sie ist einmal fast nur eine Uebersetzungsliteratur. Auch die mittel¬
hochdeutsche ist das anfangs gewesen und bekanntlich in einem ihrer kräftig¬
sten Zweige, in dem romantischen oder höfischen Epos, insoweit immer
geblieben, als selbst ein Hartenau von der Ane, Wolfram, Gottfried v. Stra߬
burg nicht blos ihre Stoffe, sondern auch einen wesentlichen Bestandtheil
ihrer Auffassung der Fremde entlehnten. Aber die mittelniederländischen
Uebersetzungen französischer Rittergedichte sind auch in unserem Sinne Ueber¬
setzungen, höchstens freie Übertragungen, was nur ein völlig Unwissender
von unserm hochdeutschen Iwein, Parzival, Tristan behaupten könnte. Hier
treten uns mächtige poetische Individualitäten entgegen, dort nur mehr oder
minder geschickte Handlanger. Dann ist auch der Kreis der mittelnieder¬
ländischen Verskunst ein sehr beschränkter, wenigstens in der Zeit, wo sie im
übrigen Deutschland in hochdeutscher Zunge sich am reichsten und vielseitig¬
sten entfaltete. Die ganze unendliche Fülle des Minnegesangs oder der
Lyrik, die bekanntlich doch noch viel mehr als das, was wir uns unter
Mtnnegesang denken, bietet, schmilzt auf niederländischen Boden zu einem
Paar Liederchen zusammen; die noch immer etwas unterschätzte Didaktik, das
philosophische Lehrgedicht der Zeit, ist fast gar nicht vorhanden, die Epik nur
auf die höfischen Stoffe beschränkt: kaum daß eine wenig gelungene Über¬
tragung der Nibelungen darauf hinweist, wie in der Heimat der Siegfrieds-
Sage diese wenigstens nicht ganz vergessen war. Ohne Zweifel erklärt sich
dies zum Theil durch die nachweisbare Herrschaft zweier anderer unendlich
überlegener Literaturen, einmal der hochdeutschen, dann der französischen.
Neben ihnen blieb der heimischen weder ein eigentliches Terrain, noch ein
Publikum, und sehen wir von der unnatürlichen Herrschaft des Französischen
ab, so hätte das Niederländische damals wirklich seine bescheidene untergeord-
nete Stellung als Sprache begriffen. Erst als die Blüthe der französischen
und deutschen Poesie von innen heraus welkte, als in ganz Europa das
neue bürgerliche Zeitalter anbrach und in den Niederlanden voller und glän¬
zender als irgendwo, erhob sich eine relativ selbständige niederländische Lite¬
ratur. Angekündigt war sie schon früher durch den in Flandern entstande¬
nen Reinaert, Die deutsche Thiersage ist in ihm so entschieden localisirt und
von der Atmosphäre der Landschaft durchzogen, daß man ihn genau mit
demselben Rechte wie man den Parzival und Tristan deutsch nennt, nieder¬
ländisch nennen muß, denn auch er ruht zunächst auf einer französischen Unter¬
lage, aber sie ist nicht sein Original und er nicht ihre Nachbildung. Weniger
der Umstand, daß die Thierfabel im französischen Gewände zuletzt doch nur
ein deutsches Eigenthum in fremder Einkleidung ist, als vielmehr die innere
Verwandtschaft ihres Inhaltes mit dem realistischen Typus des niederländi-


mit einer einzigen und noch dazu bedingten Ausnahme nichts vom ersten
Range. Sie ist einmal fast nur eine Uebersetzungsliteratur. Auch die mittel¬
hochdeutsche ist das anfangs gewesen und bekanntlich in einem ihrer kräftig¬
sten Zweige, in dem romantischen oder höfischen Epos, insoweit immer
geblieben, als selbst ein Hartenau von der Ane, Wolfram, Gottfried v. Stra߬
burg nicht blos ihre Stoffe, sondern auch einen wesentlichen Bestandtheil
ihrer Auffassung der Fremde entlehnten. Aber die mittelniederländischen
Uebersetzungen französischer Rittergedichte sind auch in unserem Sinne Ueber¬
setzungen, höchstens freie Übertragungen, was nur ein völlig Unwissender
von unserm hochdeutschen Iwein, Parzival, Tristan behaupten könnte. Hier
treten uns mächtige poetische Individualitäten entgegen, dort nur mehr oder
minder geschickte Handlanger. Dann ist auch der Kreis der mittelnieder¬
ländischen Verskunst ein sehr beschränkter, wenigstens in der Zeit, wo sie im
übrigen Deutschland in hochdeutscher Zunge sich am reichsten und vielseitig¬
sten entfaltete. Die ganze unendliche Fülle des Minnegesangs oder der
Lyrik, die bekanntlich doch noch viel mehr als das, was wir uns unter
Mtnnegesang denken, bietet, schmilzt auf niederländischen Boden zu einem
Paar Liederchen zusammen; die noch immer etwas unterschätzte Didaktik, das
philosophische Lehrgedicht der Zeit, ist fast gar nicht vorhanden, die Epik nur
auf die höfischen Stoffe beschränkt: kaum daß eine wenig gelungene Über¬
tragung der Nibelungen darauf hinweist, wie in der Heimat der Siegfrieds-
Sage diese wenigstens nicht ganz vergessen war. Ohne Zweifel erklärt sich
dies zum Theil durch die nachweisbare Herrschaft zweier anderer unendlich
überlegener Literaturen, einmal der hochdeutschen, dann der französischen.
Neben ihnen blieb der heimischen weder ein eigentliches Terrain, noch ein
Publikum, und sehen wir von der unnatürlichen Herrschaft des Französischen
ab, so hätte das Niederländische damals wirklich seine bescheidene untergeord-
nete Stellung als Sprache begriffen. Erst als die Blüthe der französischen
und deutschen Poesie von innen heraus welkte, als in ganz Europa das
neue bürgerliche Zeitalter anbrach und in den Niederlanden voller und glän¬
zender als irgendwo, erhob sich eine relativ selbständige niederländische Lite¬
ratur. Angekündigt war sie schon früher durch den in Flandern entstande¬
nen Reinaert, Die deutsche Thiersage ist in ihm so entschieden localisirt und
von der Atmosphäre der Landschaft durchzogen, daß man ihn genau mit
demselben Rechte wie man den Parzival und Tristan deutsch nennt, nieder¬
ländisch nennen muß, denn auch er ruht zunächst auf einer französischen Unter¬
lage, aber sie ist nicht sein Original und er nicht ihre Nachbildung. Weniger
der Umstand, daß die Thierfabel im französischen Gewände zuletzt doch nur
ein deutsches Eigenthum in fremder Einkleidung ist, als vielmehr die innere
Verwandtschaft ihres Inhaltes mit dem realistischen Typus des niederländi-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0481" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124633"/>
          <p xml:id="ID_1390" prev="#ID_1389" next="#ID_1391"> mit einer einzigen und noch dazu bedingten Ausnahme nichts vom ersten<lb/>
Range. Sie ist einmal fast nur eine Uebersetzungsliteratur. Auch die mittel¬<lb/>
hochdeutsche ist das anfangs gewesen und bekanntlich in einem ihrer kräftig¬<lb/>
sten Zweige, in dem romantischen oder höfischen Epos, insoweit immer<lb/>
geblieben, als selbst ein Hartenau von der Ane, Wolfram, Gottfried v. Stra߬<lb/>
burg nicht blos ihre Stoffe, sondern auch einen wesentlichen Bestandtheil<lb/>
ihrer Auffassung der Fremde entlehnten. Aber die mittelniederländischen<lb/>
Uebersetzungen französischer Rittergedichte sind auch in unserem Sinne Ueber¬<lb/>
setzungen, höchstens freie Übertragungen, was nur ein völlig Unwissender<lb/>
von unserm hochdeutschen Iwein, Parzival, Tristan behaupten könnte. Hier<lb/>
treten uns mächtige poetische Individualitäten entgegen, dort nur mehr oder<lb/>
minder geschickte Handlanger. Dann ist auch der Kreis der mittelnieder¬<lb/>
ländischen Verskunst ein sehr beschränkter, wenigstens in der Zeit, wo sie im<lb/>
übrigen Deutschland in hochdeutscher Zunge sich am reichsten und vielseitig¬<lb/>
sten entfaltete. Die ganze unendliche Fülle des Minnegesangs oder der<lb/>
Lyrik, die bekanntlich doch noch viel mehr als das, was wir uns unter<lb/>
Mtnnegesang denken, bietet, schmilzt auf niederländischen Boden zu einem<lb/>
Paar Liederchen zusammen; die noch immer etwas unterschätzte Didaktik, das<lb/>
philosophische Lehrgedicht der Zeit, ist fast gar nicht vorhanden, die Epik nur<lb/>
auf die höfischen Stoffe beschränkt: kaum daß eine wenig gelungene Über¬<lb/>
tragung der Nibelungen darauf hinweist, wie in der Heimat der Siegfrieds-<lb/>
Sage diese wenigstens nicht ganz vergessen war. Ohne Zweifel erklärt sich<lb/>
dies zum Theil durch die nachweisbare Herrschaft zweier anderer unendlich<lb/>
überlegener Literaturen, einmal der hochdeutschen, dann der französischen.<lb/>
Neben ihnen blieb der heimischen weder ein eigentliches Terrain, noch ein<lb/>
Publikum, und sehen wir von der unnatürlichen Herrschaft des Französischen<lb/>
ab, so hätte das Niederländische damals wirklich seine bescheidene untergeord-<lb/>
nete Stellung als Sprache begriffen. Erst als die Blüthe der französischen<lb/>
und deutschen Poesie von innen heraus welkte, als in ganz Europa das<lb/>
neue bürgerliche Zeitalter anbrach und in den Niederlanden voller und glän¬<lb/>
zender als irgendwo, erhob sich eine relativ selbständige niederländische Lite¬<lb/>
ratur. Angekündigt war sie schon früher durch den in Flandern entstande¬<lb/>
nen Reinaert, Die deutsche Thiersage ist in ihm so entschieden localisirt und<lb/>
von der Atmosphäre der Landschaft durchzogen, daß man ihn genau mit<lb/>
demselben Rechte wie man den Parzival und Tristan deutsch nennt, nieder¬<lb/>
ländisch nennen muß, denn auch er ruht zunächst auf einer französischen Unter¬<lb/>
lage, aber sie ist nicht sein Original und er nicht ihre Nachbildung. Weniger<lb/>
der Umstand, daß die Thierfabel im französischen Gewände zuletzt doch nur<lb/>
ein deutsches Eigenthum in fremder Einkleidung ist, als vielmehr die innere<lb/>
Verwandtschaft ihres Inhaltes mit dem realistischen Typus des niederländi-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0481] mit einer einzigen und noch dazu bedingten Ausnahme nichts vom ersten Range. Sie ist einmal fast nur eine Uebersetzungsliteratur. Auch die mittel¬ hochdeutsche ist das anfangs gewesen und bekanntlich in einem ihrer kräftig¬ sten Zweige, in dem romantischen oder höfischen Epos, insoweit immer geblieben, als selbst ein Hartenau von der Ane, Wolfram, Gottfried v. Stra߬ burg nicht blos ihre Stoffe, sondern auch einen wesentlichen Bestandtheil ihrer Auffassung der Fremde entlehnten. Aber die mittelniederländischen Uebersetzungen französischer Rittergedichte sind auch in unserem Sinne Ueber¬ setzungen, höchstens freie Übertragungen, was nur ein völlig Unwissender von unserm hochdeutschen Iwein, Parzival, Tristan behaupten könnte. Hier treten uns mächtige poetische Individualitäten entgegen, dort nur mehr oder minder geschickte Handlanger. Dann ist auch der Kreis der mittelnieder¬ ländischen Verskunst ein sehr beschränkter, wenigstens in der Zeit, wo sie im übrigen Deutschland in hochdeutscher Zunge sich am reichsten und vielseitig¬ sten entfaltete. Die ganze unendliche Fülle des Minnegesangs oder der Lyrik, die bekanntlich doch noch viel mehr als das, was wir uns unter Mtnnegesang denken, bietet, schmilzt auf niederländischen Boden zu einem Paar Liederchen zusammen; die noch immer etwas unterschätzte Didaktik, das philosophische Lehrgedicht der Zeit, ist fast gar nicht vorhanden, die Epik nur auf die höfischen Stoffe beschränkt: kaum daß eine wenig gelungene Über¬ tragung der Nibelungen darauf hinweist, wie in der Heimat der Siegfrieds- Sage diese wenigstens nicht ganz vergessen war. Ohne Zweifel erklärt sich dies zum Theil durch die nachweisbare Herrschaft zweier anderer unendlich überlegener Literaturen, einmal der hochdeutschen, dann der französischen. Neben ihnen blieb der heimischen weder ein eigentliches Terrain, noch ein Publikum, und sehen wir von der unnatürlichen Herrschaft des Französischen ab, so hätte das Niederländische damals wirklich seine bescheidene untergeord- nete Stellung als Sprache begriffen. Erst als die Blüthe der französischen und deutschen Poesie von innen heraus welkte, als in ganz Europa das neue bürgerliche Zeitalter anbrach und in den Niederlanden voller und glän¬ zender als irgendwo, erhob sich eine relativ selbständige niederländische Lite¬ ratur. Angekündigt war sie schon früher durch den in Flandern entstande¬ nen Reinaert, Die deutsche Thiersage ist in ihm so entschieden localisirt und von der Atmosphäre der Landschaft durchzogen, daß man ihn genau mit demselben Rechte wie man den Parzival und Tristan deutsch nennt, nieder¬ ländisch nennen muß, denn auch er ruht zunächst auf einer französischen Unter¬ lage, aber sie ist nicht sein Original und er nicht ihre Nachbildung. Weniger der Umstand, daß die Thierfabel im französischen Gewände zuletzt doch nur ein deutsches Eigenthum in fremder Einkleidung ist, als vielmehr die innere Verwandtschaft ihres Inhaltes mit dem realistischen Typus des niederländi-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/481
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/481>, abgerufen am 28.09.2024.