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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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tern, die wir in deutscher, französischer, provenzalischer Zunge kennen, hat je
daran gedacht, ein Drama zu schaffen. Es blieb auch, nachdem es in seinen
officiellen oder recipirten Aeußerungen fromm geworden war, unhöfisch.
Dichter und Darsteller, so geschickte Leute sie sonst sein mochten, gehörten
nicht zu der gebildeten Gesellschaft und was nothwendig damit zusammen¬
hängt, sie arbeiteten auch nicht für dieselbe. Daher ist es auch die gröbere
Mundart, die in allen uns erhaltenen Resten dieser älteren Dramatik allein
Geltung hat, für unser unvermitteltes Gefühl aufs seltsamste durchschnitten
von dem Latein der Kirche, das im Anfang und später für einen engeren
Zuhörerkreis, aus eigentlichen Klerikern und Mönchen und dem zahlreichen
Personal ihrer Dom-, Stifts- und Klosterschulen bestehend, ausschließliche
Geltung hatte, bis es für das weltliche Publikum mehr und mehr durch die
Volkssprache beschränkt und endlich, einige allgemein bekannte Phrasen ab¬
gerechnet, ganz verdrängt wurde.

Als die höfische Epik und Lyrik verklungen war oder vertrocknete,
brauchte das Drama nicht erst zu entstehen, denn es war schon lange in
reichster Fülle da gewesen. Aber jetzt erhielt es Raum in,der guten Gesell¬
schaft, denn nunmehr waren es nicht mehr Ritter und Damen, aus denen
sie bestand, fondern Kaufleute und Industrielle und zwischen ihnen, gleichsam
nur eingesprengt, einzelne Hofkreise, die an Sitte und Formen die alten Tra¬
ditionen der aristokratischen Vergangenheit möglichst übertrieben festhielten
und spielend carricirten, während sie gerade so fühlten und dachten,
aßen und tranken, scherzten und liebten, wie die damals alles be¬
herrschende städtische Bürgerschaft. Doch wurde es dadurch nicht so sehr
gehoben, als man hätte vermuthen sollen. Während einstmals die großen
Dichter der Zeit es nicht beachtet hatten, gab es jetzt keine großen Dichter
mehr und es bedürfte erst des gewaltigen idealen Anstoßes der Reformation
und was mit ihr zusammenhängt, um Talente hervorzubringen, die einem
Wolfram, Gottfried, oder auch einem Walther ebenbürtig, zum Theil ihnen
selbst überlegen waren. Aber an Masse der Produktion übertraf diese drama¬
tische Periode womöglich die vorhergegangene episch-lyrische, und wenn das
für ganz Deutschland gilt, so gilt es noch ganz besonders für die Nieder¬
lande. Noch immer nimmt das geistliche Drama seinen Ehrenplatz ein, aber
an Zahl und Bedeutung überwiegen die weltlichen Stoffe. Unter diesen mag
sich das Gewicht ungefähr ziemlich gleich auf die ernste und auf die komische
Gattung vertheilen, wenigstens wird es den Zeitgenossen so geschienen haben.
Für unsere Gaumen sind begreiflich die Erzeugnisse der letzteren, des Lust¬
spieles oder der eigentlichen Posse, um vieles genießbarer, aber man hüte sich,
unsern heutigen Geschmack rückwärts in die Seelen unserer Vorväter hinein"
zueseamotiren.


tern, die wir in deutscher, französischer, provenzalischer Zunge kennen, hat je
daran gedacht, ein Drama zu schaffen. Es blieb auch, nachdem es in seinen
officiellen oder recipirten Aeußerungen fromm geworden war, unhöfisch.
Dichter und Darsteller, so geschickte Leute sie sonst sein mochten, gehörten
nicht zu der gebildeten Gesellschaft und was nothwendig damit zusammen¬
hängt, sie arbeiteten auch nicht für dieselbe. Daher ist es auch die gröbere
Mundart, die in allen uns erhaltenen Resten dieser älteren Dramatik allein
Geltung hat, für unser unvermitteltes Gefühl aufs seltsamste durchschnitten
von dem Latein der Kirche, das im Anfang und später für einen engeren
Zuhörerkreis, aus eigentlichen Klerikern und Mönchen und dem zahlreichen
Personal ihrer Dom-, Stifts- und Klosterschulen bestehend, ausschließliche
Geltung hatte, bis es für das weltliche Publikum mehr und mehr durch die
Volkssprache beschränkt und endlich, einige allgemein bekannte Phrasen ab¬
gerechnet, ganz verdrängt wurde.

Als die höfische Epik und Lyrik verklungen war oder vertrocknete,
brauchte das Drama nicht erst zu entstehen, denn es war schon lange in
reichster Fülle da gewesen. Aber jetzt erhielt es Raum in,der guten Gesell¬
schaft, denn nunmehr waren es nicht mehr Ritter und Damen, aus denen
sie bestand, fondern Kaufleute und Industrielle und zwischen ihnen, gleichsam
nur eingesprengt, einzelne Hofkreise, die an Sitte und Formen die alten Tra¬
ditionen der aristokratischen Vergangenheit möglichst übertrieben festhielten
und spielend carricirten, während sie gerade so fühlten und dachten,
aßen und tranken, scherzten und liebten, wie die damals alles be¬
herrschende städtische Bürgerschaft. Doch wurde es dadurch nicht so sehr
gehoben, als man hätte vermuthen sollen. Während einstmals die großen
Dichter der Zeit es nicht beachtet hatten, gab es jetzt keine großen Dichter
mehr und es bedürfte erst des gewaltigen idealen Anstoßes der Reformation
und was mit ihr zusammenhängt, um Talente hervorzubringen, die einem
Wolfram, Gottfried, oder auch einem Walther ebenbürtig, zum Theil ihnen
selbst überlegen waren. Aber an Masse der Produktion übertraf diese drama¬
tische Periode womöglich die vorhergegangene episch-lyrische, und wenn das
für ganz Deutschland gilt, so gilt es noch ganz besonders für die Nieder¬
lande. Noch immer nimmt das geistliche Drama seinen Ehrenplatz ein, aber
an Zahl und Bedeutung überwiegen die weltlichen Stoffe. Unter diesen mag
sich das Gewicht ungefähr ziemlich gleich auf die ernste und auf die komische
Gattung vertheilen, wenigstens wird es den Zeitgenossen so geschienen haben.
Für unsere Gaumen sind begreiflich die Erzeugnisse der letzteren, des Lust¬
spieles oder der eigentlichen Posse, um vieles genießbarer, aber man hüte sich,
unsern heutigen Geschmack rückwärts in die Seelen unserer Vorväter hinein»
zueseamotiren.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/483>, abgerufen am 29.06.2024.