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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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land Gervinus bis vor Kurzem gethan hat. Beiläufig bemerkt, ist es auch
sichtbar unter dem Einfluß des deutschen Literarhistorikers concipirt und aus¬
gearbeitet, nur mit größerer Pietät gegen das Material. Der patriotische
Holländer vermochte es nicht, sich zu einer so souverän ab- und verurtheilen-
den Objectivität emporzuschwingen, wie sie Gervinius zu besitzen glaubt und
wie so viele Nachtreter sie von ihm sich anzueignen bemüßigt sahen. Jonck-
bloet hat ein warmes, fast zu warmes Herz für jeden Laut und Vers der
Muttersprache und bringt es nicht über sich, selbst das eigentlich Gehaltlose
oder Schwache geradezu zu verdammen. Insofern gleicht er wieder mehr dem
deutschen Vilmar, wiewohl er von dessen religiösen und politischen Schrullen
oder Vorurtheilen entfernt ist, denn seiner Bildung und Gesinnung nach
darf er für ebenso frei gelten wie sein Meister Gervinus.

Die drei Bände der niederländischen Geschichte der Poesie im Mittel¬
alter umspannen denselben Stoff und Zeitraum, den der erste vorliegende
Band des neuesten Werkes behandelt. Da es aber nicht bloß die Verskunst,
sondern auch die Prosa, ja auch bis zu einer gewissen Grenze die wissenschaft¬
liche Bewegung darzustellen unternimmt, so ist sein Inhalt ein vieseitigerer
als der jenes früheren dreibändigen Werkes. Wesentlich ist auch hier die
Dichtkunst berücksichtigt, da sie für das Mittelalter so ziemlich die einzige
übliche Form gebildeter Darstellung geliefert hat. Denn während sich
in der hochdeutschen Literatur seit der Mitte des 13. Jahrhundert ein reicher
Prosaschatz geistlichen und weltlichen Inhalts entwickelte, der an stilistischer
Durchbildung genau auf der Höhe der vorausgegangenen großen poetischen
Meister stand, während auf niedersächsischem und niederrheinischen Gebiete die
Prosa weitaus alle gleichzeitigen und früheren poetischen Leistungen über¬
holte -- denn wie ließe sich irgend ein niederdeutsches gereimtes Denk¬
mal mit der unübertroffenen Prosa des Sachsenspiegels, der Repkauischen Chronik
oder mancher Theile der Magdeburger Schöppenchronik vergleichen ? -- weist die
mittelniederländische Literatur verhältnißmäßig sehr spärliche prosaische Erzeug¬
nisse auf. und darunter kein einziges von Bedeutung. Erst der bekannte
Mystiker Ruysbroeck im vierzehnten Jahrhundert leistete in der geistlichen
Prosa ähnliches, aber durchaus nicht gleiches wie seine hoch, und mitteldeut¬
schen Vorgänger und Zeitgenossen David v. Augsburg, Hermann v. Fritzlar,
Nicolaus v. Straßburg, Bruder Eckart, Tauler, Heinrich der Suse, Rulman
Merswin und viele andere namenlose, aber an Kunst der Prosa ihnen gleiche
oder überlegene.

Eine Literatur, in welcher die poetische Form auf Kosten der Prosa sich
übermäßig geltend macht, muß deshalb noch nicht oder kann vielleicht grade
deshalb nicht in der Poesie etwas Ausgezeichnetes leisten. Die mittelnieder¬
ländische hat unzählige Verse, darunter auch einige gute hervorgebracht, aber


land Gervinus bis vor Kurzem gethan hat. Beiläufig bemerkt, ist es auch
sichtbar unter dem Einfluß des deutschen Literarhistorikers concipirt und aus¬
gearbeitet, nur mit größerer Pietät gegen das Material. Der patriotische
Holländer vermochte es nicht, sich zu einer so souverän ab- und verurtheilen-
den Objectivität emporzuschwingen, wie sie Gervinius zu besitzen glaubt und
wie so viele Nachtreter sie von ihm sich anzueignen bemüßigt sahen. Jonck-
bloet hat ein warmes, fast zu warmes Herz für jeden Laut und Vers der
Muttersprache und bringt es nicht über sich, selbst das eigentlich Gehaltlose
oder Schwache geradezu zu verdammen. Insofern gleicht er wieder mehr dem
deutschen Vilmar, wiewohl er von dessen religiösen und politischen Schrullen
oder Vorurtheilen entfernt ist, denn seiner Bildung und Gesinnung nach
darf er für ebenso frei gelten wie sein Meister Gervinus.

Die drei Bände der niederländischen Geschichte der Poesie im Mittel¬
alter umspannen denselben Stoff und Zeitraum, den der erste vorliegende
Band des neuesten Werkes behandelt. Da es aber nicht bloß die Verskunst,
sondern auch die Prosa, ja auch bis zu einer gewissen Grenze die wissenschaft¬
liche Bewegung darzustellen unternimmt, so ist sein Inhalt ein vieseitigerer
als der jenes früheren dreibändigen Werkes. Wesentlich ist auch hier die
Dichtkunst berücksichtigt, da sie für das Mittelalter so ziemlich die einzige
übliche Form gebildeter Darstellung geliefert hat. Denn während sich
in der hochdeutschen Literatur seit der Mitte des 13. Jahrhundert ein reicher
Prosaschatz geistlichen und weltlichen Inhalts entwickelte, der an stilistischer
Durchbildung genau auf der Höhe der vorausgegangenen großen poetischen
Meister stand, während auf niedersächsischem und niederrheinischen Gebiete die
Prosa weitaus alle gleichzeitigen und früheren poetischen Leistungen über¬
holte — denn wie ließe sich irgend ein niederdeutsches gereimtes Denk¬
mal mit der unübertroffenen Prosa des Sachsenspiegels, der Repkauischen Chronik
oder mancher Theile der Magdeburger Schöppenchronik vergleichen ? — weist die
mittelniederländische Literatur verhältnißmäßig sehr spärliche prosaische Erzeug¬
nisse auf. und darunter kein einziges von Bedeutung. Erst der bekannte
Mystiker Ruysbroeck im vierzehnten Jahrhundert leistete in der geistlichen
Prosa ähnliches, aber durchaus nicht gleiches wie seine hoch, und mitteldeut¬
schen Vorgänger und Zeitgenossen David v. Augsburg, Hermann v. Fritzlar,
Nicolaus v. Straßburg, Bruder Eckart, Tauler, Heinrich der Suse, Rulman
Merswin und viele andere namenlose, aber an Kunst der Prosa ihnen gleiche
oder überlegene.

Eine Literatur, in welcher die poetische Form auf Kosten der Prosa sich
übermäßig geltend macht, muß deshalb noch nicht oder kann vielleicht grade
deshalb nicht in der Poesie etwas Ausgezeichnetes leisten. Die mittelnieder¬
ländische hat unzählige Verse, darunter auch einige gute hervorgebracht, aber


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/480>, abgerufen am 29.06.2024.