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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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neue Einmischungsgelüste der Neutralen, besonders der Oestreicher, den Schwarz-
sichtigen, die eine bedenkliche Verlängerung des Krieges weissagten, scheinbar
Recht, bis vor den Nachrichten über Kämpfe und Siege in den Ardennen
Besorgniß und Trauer. Laienkritik und Bedenklichkeit weiter und weiter zu¬
rückwichen und sich endlich am Morgen des 3. September so vollständig und
bedingungslos ergaben, wie nur die Feinde selbst bei Sedan gethan.

Es war ein oröseenciv der Freude, wie man es nicht beständiger noch
großartiger denken kann, bis dann der Sonnabend, in dessen frühesten Stun¬
den die Capitulation der ganzen Armee, die Gefangennahme des Kaisers be¬
kannt ward, ein tortiLsiml) erschütternd aufbrausenden Jubels hervorrief, der¬
gleichen diese Stadt und, wie wir bald erfuhren, ganz Deutschland nie erlebt
hat. Es kam alles zusammen: man muß unsere heiteren Herbsttage ohne
Staub und Hitze, die schönste Jahreszeit für Berlin, kennen, um zu begreifen,
daß die ganze ungeheure Bevölkerung fast ausnahmslos den Tag auf der
Straße zubrachte. Und wieder hatte der Zufall gewollt, daß uns die Kunde,
wie die von Wörth und die von Gravelotte, zum Sonnabend überraschte;
wie ward das Gefühl des Aufathmens, das diesem Tage immer anhaftet,
das Bewußtsein, daß für alle Mühe und Plage einmal ein Ende abzusehen
ist, ins Riesenhafte gesteigert durch die allbelebende Botschaft! Die Leute
stürzten aus Häusern und Kellern hervor, als sei ein Erdstoß unter sie ge¬
fahren, in geschlossenen Schaaren rannten die Schulkinder, die man gleich früh
entlassen -- denn an Unterricht war nicht zu denken -- mit Hurrahgebrüll die
Straßen hinunter, natürlich nicht nach Hause, sondern nach den Linden. Ich
will nun nicht schildern, wie hier alles zusammenströmte zu Fuß und zu
Wagen, wie die Maschinenbauer mit ihren Bannern herbeizogen, die Gym¬
nasiasten mit den bayerischen, sächsischen, würtemberger und badener Fahnen,
die sie von den Gesandtschaften unserer Bundesgenossen geholt hatten, einen
vierstündigen Triumphzug durch die Stadt unternahmen, wie alles rief und
sang, lachte und sich die Hände schüttelte, wie die Königin gefeiert ward, so
daß sie einen mühevollen Tag gehabt hat; wie noch die diese Nacht von
Böllerschüssen und Kanonenschlägen durchkuallt, von Schwärmern und Raketen
durchzischt ward; ich will es nicht schildern, denn ich kann es nicht schildern;
es hatte ein Taumel dies bedächtige Volk ergriffen, wie ihn die Geschichte
sonst aus den Tagen gelungener Umwälzungen in der Seinestadt zu beschrei¬
ben weiß. Das unglückselige Paris! Welch ergreifender Contrast! Auch
da war diesen Tag über jede Brust in ruheloser Erregung, auch da trat diese
Nacht der Schlaf in kein Auge, aber es war das unheimliche Feuer der
Verzweiflung, das aus der Schuttstätte des plötzlich zerschmetterten Lügen¬
gebäudes hervorbrach. Dort warf man wieder einmal die unerträgliche Er¬
innerung an eine Epoche hohlen Ruhmes ab, ein einziger Fußtritt der Volks-


neue Einmischungsgelüste der Neutralen, besonders der Oestreicher, den Schwarz-
sichtigen, die eine bedenkliche Verlängerung des Krieges weissagten, scheinbar
Recht, bis vor den Nachrichten über Kämpfe und Siege in den Ardennen
Besorgniß und Trauer. Laienkritik und Bedenklichkeit weiter und weiter zu¬
rückwichen und sich endlich am Morgen des 3. September so vollständig und
bedingungslos ergaben, wie nur die Feinde selbst bei Sedan gethan.

Es war ein oröseenciv der Freude, wie man es nicht beständiger noch
großartiger denken kann, bis dann der Sonnabend, in dessen frühesten Stun¬
den die Capitulation der ganzen Armee, die Gefangennahme des Kaisers be¬
kannt ward, ein tortiLsiml) erschütternd aufbrausenden Jubels hervorrief, der¬
gleichen diese Stadt und, wie wir bald erfuhren, ganz Deutschland nie erlebt
hat. Es kam alles zusammen: man muß unsere heiteren Herbsttage ohne
Staub und Hitze, die schönste Jahreszeit für Berlin, kennen, um zu begreifen,
daß die ganze ungeheure Bevölkerung fast ausnahmslos den Tag auf der
Straße zubrachte. Und wieder hatte der Zufall gewollt, daß uns die Kunde,
wie die von Wörth und die von Gravelotte, zum Sonnabend überraschte;
wie ward das Gefühl des Aufathmens, das diesem Tage immer anhaftet,
das Bewußtsein, daß für alle Mühe und Plage einmal ein Ende abzusehen
ist, ins Riesenhafte gesteigert durch die allbelebende Botschaft! Die Leute
stürzten aus Häusern und Kellern hervor, als sei ein Erdstoß unter sie ge¬
fahren, in geschlossenen Schaaren rannten die Schulkinder, die man gleich früh
entlassen — denn an Unterricht war nicht zu denken — mit Hurrahgebrüll die
Straßen hinunter, natürlich nicht nach Hause, sondern nach den Linden. Ich
will nun nicht schildern, wie hier alles zusammenströmte zu Fuß und zu
Wagen, wie die Maschinenbauer mit ihren Bannern herbeizogen, die Gym¬
nasiasten mit den bayerischen, sächsischen, würtemberger und badener Fahnen,
die sie von den Gesandtschaften unserer Bundesgenossen geholt hatten, einen
vierstündigen Triumphzug durch die Stadt unternahmen, wie alles rief und
sang, lachte und sich die Hände schüttelte, wie die Königin gefeiert ward, so
daß sie einen mühevollen Tag gehabt hat; wie noch die diese Nacht von
Böllerschüssen und Kanonenschlägen durchkuallt, von Schwärmern und Raketen
durchzischt ward; ich will es nicht schildern, denn ich kann es nicht schildern;
es hatte ein Taumel dies bedächtige Volk ergriffen, wie ihn die Geschichte
sonst aus den Tagen gelungener Umwälzungen in der Seinestadt zu beschrei¬
ben weiß. Das unglückselige Paris! Welch ergreifender Contrast! Auch
da war diesen Tag über jede Brust in ruheloser Erregung, auch da trat diese
Nacht der Schlaf in kein Auge, aber es war das unheimliche Feuer der
Verzweiflung, das aus der Schuttstätte des plötzlich zerschmetterten Lügen¬
gebäudes hervorbrach. Dort warf man wieder einmal die unerträgliche Er¬
innerung an eine Epoche hohlen Ruhmes ab, ein einziger Fußtritt der Volks-


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[0466] neue Einmischungsgelüste der Neutralen, besonders der Oestreicher, den Schwarz- sichtigen, die eine bedenkliche Verlängerung des Krieges weissagten, scheinbar Recht, bis vor den Nachrichten über Kämpfe und Siege in den Ardennen Besorgniß und Trauer. Laienkritik und Bedenklichkeit weiter und weiter zu¬ rückwichen und sich endlich am Morgen des 3. September so vollständig und bedingungslos ergaben, wie nur die Feinde selbst bei Sedan gethan. Es war ein oröseenciv der Freude, wie man es nicht beständiger noch großartiger denken kann, bis dann der Sonnabend, in dessen frühesten Stun¬ den die Capitulation der ganzen Armee, die Gefangennahme des Kaisers be¬ kannt ward, ein tortiLsiml) erschütternd aufbrausenden Jubels hervorrief, der¬ gleichen diese Stadt und, wie wir bald erfuhren, ganz Deutschland nie erlebt hat. Es kam alles zusammen: man muß unsere heiteren Herbsttage ohne Staub und Hitze, die schönste Jahreszeit für Berlin, kennen, um zu begreifen, daß die ganze ungeheure Bevölkerung fast ausnahmslos den Tag auf der Straße zubrachte. Und wieder hatte der Zufall gewollt, daß uns die Kunde, wie die von Wörth und die von Gravelotte, zum Sonnabend überraschte; wie ward das Gefühl des Aufathmens, das diesem Tage immer anhaftet, das Bewußtsein, daß für alle Mühe und Plage einmal ein Ende abzusehen ist, ins Riesenhafte gesteigert durch die allbelebende Botschaft! Die Leute stürzten aus Häusern und Kellern hervor, als sei ein Erdstoß unter sie ge¬ fahren, in geschlossenen Schaaren rannten die Schulkinder, die man gleich früh entlassen — denn an Unterricht war nicht zu denken — mit Hurrahgebrüll die Straßen hinunter, natürlich nicht nach Hause, sondern nach den Linden. Ich will nun nicht schildern, wie hier alles zusammenströmte zu Fuß und zu Wagen, wie die Maschinenbauer mit ihren Bannern herbeizogen, die Gym¬ nasiasten mit den bayerischen, sächsischen, würtemberger und badener Fahnen, die sie von den Gesandtschaften unserer Bundesgenossen geholt hatten, einen vierstündigen Triumphzug durch die Stadt unternahmen, wie alles rief und sang, lachte und sich die Hände schüttelte, wie die Königin gefeiert ward, so daß sie einen mühevollen Tag gehabt hat; wie noch die diese Nacht von Böllerschüssen und Kanonenschlägen durchkuallt, von Schwärmern und Raketen durchzischt ward; ich will es nicht schildern, denn ich kann es nicht schildern; es hatte ein Taumel dies bedächtige Volk ergriffen, wie ihn die Geschichte sonst aus den Tagen gelungener Umwälzungen in der Seinestadt zu beschrei¬ ben weiß. Das unglückselige Paris! Welch ergreifender Contrast! Auch da war diesen Tag über jede Brust in ruheloser Erregung, auch da trat diese Nacht der Schlaf in kein Auge, aber es war das unheimliche Feuer der Verzweiflung, das aus der Schuttstätte des plötzlich zerschmetterten Lügen¬ gebäudes hervorbrach. Dort warf man wieder einmal die unerträgliche Er¬ innerung an eine Epoche hohlen Ruhmes ab, ein einziger Fußtritt der Volks-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/466>, abgerufen am 29.06.2024.