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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Seitdem das Vorstehende geschrieben, sind in der italienischen Politik
Anzeichen hervorgetreten, welche wenig geeignet sind, die zum Schluß geäußer¬
ten Hoffnungen -- Hoffnungen nicht für Deutschland, sondern für Italien --
zu verstärken. Die Sendung des Schleichers Minghetti als außerordentlichen
Bevollmächtigten nach Wien, sowie die beschlossene, aber wieder aufgegebene
des Generals La Marmora nach Se. Petersburg zeigen das Ministerium
aufs Neue unter dem Druck des verderblichen Systems, das bei diploma¬
tischen Reactionsideen der inneren Schwierigkeiten vergißt oder ihnen aus
dem Weg zu gehen hofft. Andrerseits geben die schroffen Erklärungen Lan-
za's im Parlament, im Widerspruch mit den Zusagen seines Collegen Sella
an die Linke, allen Grund zu der Befürchtung, daß das Ministerium der
römischen Frage gegenüber zu der unglücklichsten Politik, der eines unfrucht¬
baren Widerstandes zurückzukehren im Begriff steht. Eine solche Schwäche
und Kurzsichtigkeit in solchen Momenten wäre unverzeihlich, ja einem politi¬
schen Selbstmord gleich. An dem wahren Machtverhältniß ist Nichts geän¬
dert: die oben besprochenen Folgen würden voraussichtlich mit furchtbarem
Ernst sich äußern. In diesem Augenblick ist der "Freund Italiens" ein
armer Gefangener in der Macht des glorreichen Siegers, und aus den Trüm¬
mern des Kaiserreichs steigt die Republik empor. In diesem Augenblick
trifft Italien der gewaltige Rückschlag der Pariser Revolution: die nächsten
Stunden müssen Entscheidendes bringen. Wehe der Regierung, wenn sie
dem Stoß nicht gewachsen wäre! Auf ihr und auf einer gewissenlosen Cama-
rilla würde die Verantwortung lasten, wenn die Loose in Paris auch für
Italien angeworfen wären.




Berliner Briefe.
VI.

Ich habe diesmal vierzehn Tage seit meinem letzten Briefe vergehen
lassen, zwei Wochen, die uns mit der Schwere von Jahren auf der Seele
lasten, wenn wir versuchen, sie zurückdenkend noch einmal zu durchleben; so
unermeßlich ist ihr Inhalt, so grenzenlos, was sie darüber hinaus verheißen!
Doch war es nicht Zufall, daß ich meinen Posttag überschlug; diese beiden
letzten Wochen stachen von einander ab wie Nacht und Tag, die Stimmung
unserer Stadt war in der ersten so traurig düster, daß ich es nicht über mich
vermochte, sie zu schildern; ich sehnte mich nachbesseren Botschaften, die jenes


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Seitdem das Vorstehende geschrieben, sind in der italienischen Politik
Anzeichen hervorgetreten, welche wenig geeignet sind, die zum Schluß geäußer¬
ten Hoffnungen — Hoffnungen nicht für Deutschland, sondern für Italien —
zu verstärken. Die Sendung des Schleichers Minghetti als außerordentlichen
Bevollmächtigten nach Wien, sowie die beschlossene, aber wieder aufgegebene
des Generals La Marmora nach Se. Petersburg zeigen das Ministerium
aufs Neue unter dem Druck des verderblichen Systems, das bei diploma¬
tischen Reactionsideen der inneren Schwierigkeiten vergißt oder ihnen aus
dem Weg zu gehen hofft. Andrerseits geben die schroffen Erklärungen Lan-
za's im Parlament, im Widerspruch mit den Zusagen seines Collegen Sella
an die Linke, allen Grund zu der Befürchtung, daß das Ministerium der
römischen Frage gegenüber zu der unglücklichsten Politik, der eines unfrucht¬
baren Widerstandes zurückzukehren im Begriff steht. Eine solche Schwäche
und Kurzsichtigkeit in solchen Momenten wäre unverzeihlich, ja einem politi¬
schen Selbstmord gleich. An dem wahren Machtverhältniß ist Nichts geän¬
dert: die oben besprochenen Folgen würden voraussichtlich mit furchtbarem
Ernst sich äußern. In diesem Augenblick ist der „Freund Italiens" ein
armer Gefangener in der Macht des glorreichen Siegers, und aus den Trüm¬
mern des Kaiserreichs steigt die Republik empor. In diesem Augenblick
trifft Italien der gewaltige Rückschlag der Pariser Revolution: die nächsten
Stunden müssen Entscheidendes bringen. Wehe der Regierung, wenn sie
dem Stoß nicht gewachsen wäre! Auf ihr und auf einer gewissenlosen Cama-
rilla würde die Verantwortung lasten, wenn die Loose in Paris auch für
Italien angeworfen wären.




Berliner Briefe.
VI.

Ich habe diesmal vierzehn Tage seit meinem letzten Briefe vergehen
lassen, zwei Wochen, die uns mit der Schwere von Jahren auf der Seele
lasten, wenn wir versuchen, sie zurückdenkend noch einmal zu durchleben; so
unermeßlich ist ihr Inhalt, so grenzenlos, was sie darüber hinaus verheißen!
Doch war es nicht Zufall, daß ich meinen Posttag überschlug; diese beiden
letzten Wochen stachen von einander ab wie Nacht und Tag, die Stimmung
unserer Stadt war in der ersten so traurig düster, daß ich es nicht über mich
vermochte, sie zu schildern; ich sehnte mich nachbesseren Botschaften, die jenes


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[0463] Seitdem das Vorstehende geschrieben, sind in der italienischen Politik Anzeichen hervorgetreten, welche wenig geeignet sind, die zum Schluß geäußer¬ ten Hoffnungen — Hoffnungen nicht für Deutschland, sondern für Italien — zu verstärken. Die Sendung des Schleichers Minghetti als außerordentlichen Bevollmächtigten nach Wien, sowie die beschlossene, aber wieder aufgegebene des Generals La Marmora nach Se. Petersburg zeigen das Ministerium aufs Neue unter dem Druck des verderblichen Systems, das bei diploma¬ tischen Reactionsideen der inneren Schwierigkeiten vergißt oder ihnen aus dem Weg zu gehen hofft. Andrerseits geben die schroffen Erklärungen Lan- za's im Parlament, im Widerspruch mit den Zusagen seines Collegen Sella an die Linke, allen Grund zu der Befürchtung, daß das Ministerium der römischen Frage gegenüber zu der unglücklichsten Politik, der eines unfrucht¬ baren Widerstandes zurückzukehren im Begriff steht. Eine solche Schwäche und Kurzsichtigkeit in solchen Momenten wäre unverzeihlich, ja einem politi¬ schen Selbstmord gleich. An dem wahren Machtverhältniß ist Nichts geän¬ dert: die oben besprochenen Folgen würden voraussichtlich mit furchtbarem Ernst sich äußern. In diesem Augenblick ist der „Freund Italiens" ein armer Gefangener in der Macht des glorreichen Siegers, und aus den Trüm¬ mern des Kaiserreichs steigt die Republik empor. In diesem Augenblick trifft Italien der gewaltige Rückschlag der Pariser Revolution: die nächsten Stunden müssen Entscheidendes bringen. Wehe der Regierung, wenn sie dem Stoß nicht gewachsen wäre! Auf ihr und auf einer gewissenlosen Cama- rilla würde die Verantwortung lasten, wenn die Loose in Paris auch für Italien angeworfen wären. Berliner Briefe. VI. Ich habe diesmal vierzehn Tage seit meinem letzten Briefe vergehen lassen, zwei Wochen, die uns mit der Schwere von Jahren auf der Seele lasten, wenn wir versuchen, sie zurückdenkend noch einmal zu durchleben; so unermeßlich ist ihr Inhalt, so grenzenlos, was sie darüber hinaus verheißen! Doch war es nicht Zufall, daß ich meinen Posttag überschlug; diese beiden letzten Wochen stachen von einander ab wie Nacht und Tag, die Stimmung unserer Stadt war in der ersten so traurig düster, daß ich es nicht über mich vermochte, sie zu schildern; ich sehnte mich nachbesseren Botschaften, die jenes 59*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/463>, abgerufen am 29.06.2024.