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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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erfreuen wird. Es fragt sich nur, wie weit uns ihr Mißwollen stören
darf.

Eine Liga der Neutralen hat doch nur dann einen Werth, wenn sie zu
dem moralischen Gewicht auch das materielle in die Wagschale zu legen fähig
und entschlossen ist. Um den Sieger aufzuhalten und ihm ihre Vermittlung
aufzuzwingen, -- dazu müßte die Liga eine Armee hinter sich bereit haben, die
der siegreichen überlegen, zum mindesten gewachsen wäre. Daß zu einem sol¬
chen wirksamen Vorgehen die Neutralen den einmüthigen Willen so leicht
finden werden, dürfen wir bezweifeln; daß sie die Macht dazu nicht haben
werden, dürfen wir überzeugt sein.

Was insbesondere Italien betrifft, so reicht die Zärtlichkeit der Re¬
gierung für die Integrität des französischen Territoriums nicht weiter als
ihre Fähigkeit, mit den Waffen für dieselbe einzutreten. Italien hat keine
feldtüchtige Armee, die es außerhalb seiner Grenzen verwenden könnte. Auch
die gegenwärtige Vermehrung und beschleunigte Ausbildung der Truppen
kann das nicht mit einem Schlag ersetzen, was seit 1866 durch die Armee¬
verwaltung versäumt worden ist. Der Vorwurf, den General Cialdini in
seiner Senatsrede gegen die Minister schleuderte, die Armee sei desorganisirt
und demoralisirt, ist kein ungerechter. Die Cadres sind -- oder waren bis
vor Kurzem -- nicht mehr intact, die Anschaffung neuer Hinterlader und
Umbildung der alten Gewehre ist kaum in Angriff genommen. Pferde und
Proviant in Masse nach Frankreich verkauft, die Ausrüstung der Kavallerie
und Artillerie äußerst mangelhaft. Noch kläglicher ist es mit der Flotte be¬
stellt, die sich in einem derartigen Zustand der Verwahrlosung befindet, daß
Lanza bei seinem Amtsantritt sie völlig vom Budget verschwinden lassen
wollte. Auch der Geist der Truppen hat durch die letzten Krisen bedenklich
gelitten: es ist seit dem Erlaß des früheren Kriegsministers Bertole'-Viale
kein Geheimniß mehr, und noch die jüngsten Unruhen in der Lombarde
haben es bestätigt, daß mazzinistische Umtriebe im Heer, besonders dem Unter¬
offizierkorps, in ziemlichem Umfang und mit Frucht gearbeitet haben. Mit
solchen Kräften wagt man sich nicht leicht ins Feld -- auch wenn man sie
nicht zu Hause weit nöthiger hätte.

Denn die italienische Regierung hat jetzt Anderes zu thun, als zu Frank¬
reichs Bestem Lanzen zu brechen. Der Abzug der französischen Trup¬
pen aus Rom hat der Actionspartei die Bahn wieder frei gemacht;
und schon regt sie sich allenthalben auf der Halbinsel, um den Mo¬
ment auszunutzen. Zwar der alte Agitator Mazzini ist in Palermo
abgefangen und in Gaeta einstweilen unschädlich gemacht; indeß die Partei
ist groß und weitverzweigt und es fehlt ihr weder an waghalsigen Füh-


Grenzboten III. 187", S9

erfreuen wird. Es fragt sich nur, wie weit uns ihr Mißwollen stören
darf.

Eine Liga der Neutralen hat doch nur dann einen Werth, wenn sie zu
dem moralischen Gewicht auch das materielle in die Wagschale zu legen fähig
und entschlossen ist. Um den Sieger aufzuhalten und ihm ihre Vermittlung
aufzuzwingen, — dazu müßte die Liga eine Armee hinter sich bereit haben, die
der siegreichen überlegen, zum mindesten gewachsen wäre. Daß zu einem sol¬
chen wirksamen Vorgehen die Neutralen den einmüthigen Willen so leicht
finden werden, dürfen wir bezweifeln; daß sie die Macht dazu nicht haben
werden, dürfen wir überzeugt sein.

Was insbesondere Italien betrifft, so reicht die Zärtlichkeit der Re¬
gierung für die Integrität des französischen Territoriums nicht weiter als
ihre Fähigkeit, mit den Waffen für dieselbe einzutreten. Italien hat keine
feldtüchtige Armee, die es außerhalb seiner Grenzen verwenden könnte. Auch
die gegenwärtige Vermehrung und beschleunigte Ausbildung der Truppen
kann das nicht mit einem Schlag ersetzen, was seit 1866 durch die Armee¬
verwaltung versäumt worden ist. Der Vorwurf, den General Cialdini in
seiner Senatsrede gegen die Minister schleuderte, die Armee sei desorganisirt
und demoralisirt, ist kein ungerechter. Die Cadres sind — oder waren bis
vor Kurzem — nicht mehr intact, die Anschaffung neuer Hinterlader und
Umbildung der alten Gewehre ist kaum in Angriff genommen. Pferde und
Proviant in Masse nach Frankreich verkauft, die Ausrüstung der Kavallerie
und Artillerie äußerst mangelhaft. Noch kläglicher ist es mit der Flotte be¬
stellt, die sich in einem derartigen Zustand der Verwahrlosung befindet, daß
Lanza bei seinem Amtsantritt sie völlig vom Budget verschwinden lassen
wollte. Auch der Geist der Truppen hat durch die letzten Krisen bedenklich
gelitten: es ist seit dem Erlaß des früheren Kriegsministers Bertole'-Viale
kein Geheimniß mehr, und noch die jüngsten Unruhen in der Lombarde
haben es bestätigt, daß mazzinistische Umtriebe im Heer, besonders dem Unter¬
offizierkorps, in ziemlichem Umfang und mit Frucht gearbeitet haben. Mit
solchen Kräften wagt man sich nicht leicht ins Feld — auch wenn man sie
nicht zu Hause weit nöthiger hätte.

Denn die italienische Regierung hat jetzt Anderes zu thun, als zu Frank¬
reichs Bestem Lanzen zu brechen. Der Abzug der französischen Trup¬
pen aus Rom hat der Actionspartei die Bahn wieder frei gemacht;
und schon regt sie sich allenthalben auf der Halbinsel, um den Mo¬
ment auszunutzen. Zwar der alte Agitator Mazzini ist in Palermo
abgefangen und in Gaeta einstweilen unschädlich gemacht; indeß die Partei
ist groß und weitverzweigt und es fehlt ihr weder an waghalsigen Füh-


Grenzboten III. 187«, S9
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/461>, abgerufen am 28.09.2024.