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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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uns Deutsche. Die kleinen Händler vom Mercato nuovo, Obstverkäufer und
Eiswasserträger, Schustergesellm und Kinderfrauen spendeten ihren Soldo,
um das Extrablatt zu haben und buchstabirten sich die Depesche vor. Ich
sprach einen befreundeten Beamten; während der aufgeregten Unterhaltung
las er das Blatt wieder und wieder laut vor. "wille voies lo legM" fügte
er hinzu. Die Gegner hielten klüglich zurück. Abends reiste ich ab: wo ich
hinkam, in Genua, in Piemont und Mailand, wiederholten sich ähnliche
Scenen. Ein Gefühl der Befreiung lagerte sich über die Gemüther; sie em¬
pfanden wohl, daß der Sieg auch ihnen zu Gute komme.

Am Abend des 6. August hatte allerdings die entscheidende Minister-
conferenz stattgefunden. Malaret hatte Angesichts der veränderten Situation
dringende Forderungen an die italienische Regierung gestellt und Ver¬
sprechungen und Drohungen, deren Wirkungskraft er kannte, nicht gespart.
Vergebens. Das Ministerium wies die Allianzvorschläge ab. Lanza zeigte
sich unerschütterlich; man schreibt ihm die Aeußerung zu, lieber werde er sich
die Hand abhauen, als einen Allianztractat mit Frankreich unterzeichnen.

Das veränderte Machtverhältniß der Kriegführenden äußerte mit Blitzes¬
schnelle seinen Rückschlag. Die Consorten zitterten; die Politik der Neutrali¬
tät, die ihnen vorher eine "preußische" hieß, priesen sie jetzt laut und über¬
laut, als gälte es ihr früheres Kriegsgeschrei zu übertäuben. Für das zu¬
sammenstürzende Kaiserreich wagten sie nach den Vorgängen in Paris kaum
mehr zu hoffen: jetzt beherrschte sie schon die Furcht, das schnell schreitende Ver-
hängniß könnte von dort aus auch das Regno und sie selbst erreichen. Unter
der Eingebung dieser Furcht, von welcher auch die Regierung sich ergriffen
zeigte, wurden die nächsten Maßnahmen einer abermaligen Vermehrung des Prä¬
senzstandes der Armee, beschleunigter Truppendislocattonen, einer neuen An¬
leihe beschlossen und durchgeführt.

Indessen hat die italienische Regierung Angesichts des stetigen siegreichen
Fortschreitens der deutschen Heere aus französischem Boden der diplomatischen
Action nicht entsagt. Die Verhandlungen wegen eines zwischen den neu¬
tralen Mächten herzustellenden Einverständnisses hat sie thätig wieder auf¬
gegriffen und dieselben sind, der dankenswerten Mittheilung Visconti's an
die Kammer zufolge, doch so weit gediehen, daß die Neutralen sich verpflich¬
ten, nicht einseitig und ohne vorhergegangene gegenseitige Benachrichtigung
aus der bisherigen Haltung herauszutreten. Ein erster Schritt! Wie und
wann man der kriegerischen Action Einhalt thun wolle, darüber scheint die
Verständigung noch nicht erzielt, so wenig wie über die "vorzuschreibenden"
Friedensbedingungen; doch dürfen wir nach der bisherigen fo consequent
neutralen Haltung gewisser Mächte so viel immerhin annehmen, daß die von
Deutschland erwartete Lösung sis nicht sonderlicher Gunst der "Neutralen"


uns Deutsche. Die kleinen Händler vom Mercato nuovo, Obstverkäufer und
Eiswasserträger, Schustergesellm und Kinderfrauen spendeten ihren Soldo,
um das Extrablatt zu haben und buchstabirten sich die Depesche vor. Ich
sprach einen befreundeten Beamten; während der aufgeregten Unterhaltung
las er das Blatt wieder und wieder laut vor. „wille voies lo legM" fügte
er hinzu. Die Gegner hielten klüglich zurück. Abends reiste ich ab: wo ich
hinkam, in Genua, in Piemont und Mailand, wiederholten sich ähnliche
Scenen. Ein Gefühl der Befreiung lagerte sich über die Gemüther; sie em¬
pfanden wohl, daß der Sieg auch ihnen zu Gute komme.

Am Abend des 6. August hatte allerdings die entscheidende Minister-
conferenz stattgefunden. Malaret hatte Angesichts der veränderten Situation
dringende Forderungen an die italienische Regierung gestellt und Ver¬
sprechungen und Drohungen, deren Wirkungskraft er kannte, nicht gespart.
Vergebens. Das Ministerium wies die Allianzvorschläge ab. Lanza zeigte
sich unerschütterlich; man schreibt ihm die Aeußerung zu, lieber werde er sich
die Hand abhauen, als einen Allianztractat mit Frankreich unterzeichnen.

Das veränderte Machtverhältniß der Kriegführenden äußerte mit Blitzes¬
schnelle seinen Rückschlag. Die Consorten zitterten; die Politik der Neutrali¬
tät, die ihnen vorher eine „preußische" hieß, priesen sie jetzt laut und über¬
laut, als gälte es ihr früheres Kriegsgeschrei zu übertäuben. Für das zu¬
sammenstürzende Kaiserreich wagten sie nach den Vorgängen in Paris kaum
mehr zu hoffen: jetzt beherrschte sie schon die Furcht, das schnell schreitende Ver-
hängniß könnte von dort aus auch das Regno und sie selbst erreichen. Unter
der Eingebung dieser Furcht, von welcher auch die Regierung sich ergriffen
zeigte, wurden die nächsten Maßnahmen einer abermaligen Vermehrung des Prä¬
senzstandes der Armee, beschleunigter Truppendislocattonen, einer neuen An¬
leihe beschlossen und durchgeführt.

Indessen hat die italienische Regierung Angesichts des stetigen siegreichen
Fortschreitens der deutschen Heere aus französischem Boden der diplomatischen
Action nicht entsagt. Die Verhandlungen wegen eines zwischen den neu¬
tralen Mächten herzustellenden Einverständnisses hat sie thätig wieder auf¬
gegriffen und dieselben sind, der dankenswerten Mittheilung Visconti's an
die Kammer zufolge, doch so weit gediehen, daß die Neutralen sich verpflich¬
ten, nicht einseitig und ohne vorhergegangene gegenseitige Benachrichtigung
aus der bisherigen Haltung herauszutreten. Ein erster Schritt! Wie und
wann man der kriegerischen Action Einhalt thun wolle, darüber scheint die
Verständigung noch nicht erzielt, so wenig wie über die „vorzuschreibenden"
Friedensbedingungen; doch dürfen wir nach der bisherigen fo consequent
neutralen Haltung gewisser Mächte so viel immerhin annehmen, daß die von
Deutschland erwartete Lösung sis nicht sonderlicher Gunst der „Neutralen"


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[0460] uns Deutsche. Die kleinen Händler vom Mercato nuovo, Obstverkäufer und Eiswasserträger, Schustergesellm und Kinderfrauen spendeten ihren Soldo, um das Extrablatt zu haben und buchstabirten sich die Depesche vor. Ich sprach einen befreundeten Beamten; während der aufgeregten Unterhaltung las er das Blatt wieder und wieder laut vor. „wille voies lo legM" fügte er hinzu. Die Gegner hielten klüglich zurück. Abends reiste ich ab: wo ich hinkam, in Genua, in Piemont und Mailand, wiederholten sich ähnliche Scenen. Ein Gefühl der Befreiung lagerte sich über die Gemüther; sie em¬ pfanden wohl, daß der Sieg auch ihnen zu Gute komme. Am Abend des 6. August hatte allerdings die entscheidende Minister- conferenz stattgefunden. Malaret hatte Angesichts der veränderten Situation dringende Forderungen an die italienische Regierung gestellt und Ver¬ sprechungen und Drohungen, deren Wirkungskraft er kannte, nicht gespart. Vergebens. Das Ministerium wies die Allianzvorschläge ab. Lanza zeigte sich unerschütterlich; man schreibt ihm die Aeußerung zu, lieber werde er sich die Hand abhauen, als einen Allianztractat mit Frankreich unterzeichnen. Das veränderte Machtverhältniß der Kriegführenden äußerte mit Blitzes¬ schnelle seinen Rückschlag. Die Consorten zitterten; die Politik der Neutrali¬ tät, die ihnen vorher eine „preußische" hieß, priesen sie jetzt laut und über¬ laut, als gälte es ihr früheres Kriegsgeschrei zu übertäuben. Für das zu¬ sammenstürzende Kaiserreich wagten sie nach den Vorgängen in Paris kaum mehr zu hoffen: jetzt beherrschte sie schon die Furcht, das schnell schreitende Ver- hängniß könnte von dort aus auch das Regno und sie selbst erreichen. Unter der Eingebung dieser Furcht, von welcher auch die Regierung sich ergriffen zeigte, wurden die nächsten Maßnahmen einer abermaligen Vermehrung des Prä¬ senzstandes der Armee, beschleunigter Truppendislocattonen, einer neuen An¬ leihe beschlossen und durchgeführt. Indessen hat die italienische Regierung Angesichts des stetigen siegreichen Fortschreitens der deutschen Heere aus französischem Boden der diplomatischen Action nicht entsagt. Die Verhandlungen wegen eines zwischen den neu¬ tralen Mächten herzustellenden Einverständnisses hat sie thätig wieder auf¬ gegriffen und dieselben sind, der dankenswerten Mittheilung Visconti's an die Kammer zufolge, doch so weit gediehen, daß die Neutralen sich verpflich¬ ten, nicht einseitig und ohne vorhergegangene gegenseitige Benachrichtigung aus der bisherigen Haltung herauszutreten. Ein erster Schritt! Wie und wann man der kriegerischen Action Einhalt thun wolle, darüber scheint die Verständigung noch nicht erzielt, so wenig wie über die „vorzuschreibenden" Friedensbedingungen; doch dürfen wir nach der bisherigen fo consequent neutralen Haltung gewisser Mächte so viel immerhin annehmen, daß die von Deutschland erwartete Lösung sis nicht sonderlicher Gunst der „Neutralen"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/460>, abgerufen am 29.06.2024.