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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Süddeutschen die lebhafteste Abneigung gegen den Eintritt in unseren Bund
herrschte, aus keinem anderen Grunde, als aus der thörichten Furcht, wir
wollten ihnen an ihr territoriales Leben, wir würden in unserem unersätt¬
lichen Annexionshunger sie alsbald verschlingen in den Einheitsstaat, der ja
der Mehrzahl von uns als Ideal vor der Seele schwebt. Da schien es
denn kein besseres Mittel zu geben, um diese Furcht zu zerstreuen, als wenn
wir die Staaten, die von uns den Untergang oder doch Schwächung und
Verkleinerung erwarteten, nicht blos erhielten, sondern geradezu vergrößerten
und verstärkten.

Diese Argumentation, so politisch weise, so vorsichtig und uneigennützig
sie sich ausnimmt, ist gleichwohl falsch. Die Einigung im gesammtdeutschen
Bunde, nach der wir streben, ist kein Handelsgeschäft. Der nationalen
Begeisterung, dem schmerzlicherhebenden Andenken an gemeinsam ruhmvoll
vergossenes Blut wird sie ihr Dasein verdanken; vor solcher Sonne wird
hinwegthauen, was noch an gegenseitigem Mißtraun, an verkennender Ent¬
fremdung vorhanden war. Mit äußeren Gaben könnte man doch innere
Abneigung niemals beschwichtigen. Auch läge in der beabsichtigten Vergröße¬
rung, die dem schärferen Auge nie als eine Stärkung, sondern umgekehrt als
eine Schwächung der Vergrößerter sich darstellen muß, wahrhaftig kein Schutz
der Südstaaten gegen unseren Trieb zum Einheitsstaate, wenn dieser näm¬
lich wirklich so beschaffen wäre, wie man sich ihn jenseits des Mains ängst¬
lich ausmalt. Wären wir denn solche Verschlinger, so würde es unseren
armen Opfern wenig frommen, wollten wir sie uns vor der Mahlzeit noch
ein wenig heranmästen. Nun denkt aber kein Mensch in Preußen daran, den
Einheitsstaat jemals auch nur mit dem leisesten Drucke auf unsere deutschen
Brüder schaffen zu können oder zu wollen. Wir wissen sehr gut, daß jeder
Versuch dazu seine Verwirklichung nur erschweren und verzögern, vielleicht
unmöglich machen würde. Der Einheitsstaat ist uns allen durchaus nur ein
Ideal für eine wohl noch sehr ferne Zukunft; wir erwarten sein Erscheinen einzig
als die reife Frucht einer ganz innerlichen, freiwilligen und freiheitlichen
Entwicklung, die kein einzelner Mensch beschleunigen, aber wohl auch keiner
wesentlich hemmen kann. Der Einheitsstaat ist uns genau wie den Süddeut¬
schen reine Glaubenesache, nur mit dem Unterschiede, daß unser Glaube
Hoffnung, der ihre bisher Furcht war; wenn diese Furcht dereinst sich in der
Stille von selbst in Hoffnung umgewandelt haben wird, dann erst wird der
deutsche Einheitsstaat ins Leben treten. Bis dahin aber hat's noch gar gute
Wege, die jetzige Anncxionsfrage hat weder an sich noch in ihren Folgen das
mindeste damit zu thun.

Kehren wir zu ihr zurück und betrachten sie in ihrer ganzen Einfachheit,
so lautet sie: wie wird, was wir aus französischen Händen für Deutschland
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Süddeutschen die lebhafteste Abneigung gegen den Eintritt in unseren Bund
herrschte, aus keinem anderen Grunde, als aus der thörichten Furcht, wir
wollten ihnen an ihr territoriales Leben, wir würden in unserem unersätt¬
lichen Annexionshunger sie alsbald verschlingen in den Einheitsstaat, der ja
der Mehrzahl von uns als Ideal vor der Seele schwebt. Da schien es
denn kein besseres Mittel zu geben, um diese Furcht zu zerstreuen, als wenn
wir die Staaten, die von uns den Untergang oder doch Schwächung und
Verkleinerung erwarteten, nicht blos erhielten, sondern geradezu vergrößerten
und verstärkten.

Diese Argumentation, so politisch weise, so vorsichtig und uneigennützig
sie sich ausnimmt, ist gleichwohl falsch. Die Einigung im gesammtdeutschen
Bunde, nach der wir streben, ist kein Handelsgeschäft. Der nationalen
Begeisterung, dem schmerzlicherhebenden Andenken an gemeinsam ruhmvoll
vergossenes Blut wird sie ihr Dasein verdanken; vor solcher Sonne wird
hinwegthauen, was noch an gegenseitigem Mißtraun, an verkennender Ent¬
fremdung vorhanden war. Mit äußeren Gaben könnte man doch innere
Abneigung niemals beschwichtigen. Auch läge in der beabsichtigten Vergröße¬
rung, die dem schärferen Auge nie als eine Stärkung, sondern umgekehrt als
eine Schwächung der Vergrößerter sich darstellen muß, wahrhaftig kein Schutz
der Südstaaten gegen unseren Trieb zum Einheitsstaate, wenn dieser näm¬
lich wirklich so beschaffen wäre, wie man sich ihn jenseits des Mains ängst¬
lich ausmalt. Wären wir denn solche Verschlinger, so würde es unseren
armen Opfern wenig frommen, wollten wir sie uns vor der Mahlzeit noch
ein wenig heranmästen. Nun denkt aber kein Mensch in Preußen daran, den
Einheitsstaat jemals auch nur mit dem leisesten Drucke auf unsere deutschen
Brüder schaffen zu können oder zu wollen. Wir wissen sehr gut, daß jeder
Versuch dazu seine Verwirklichung nur erschweren und verzögern, vielleicht
unmöglich machen würde. Der Einheitsstaat ist uns allen durchaus nur ein
Ideal für eine wohl noch sehr ferne Zukunft; wir erwarten sein Erscheinen einzig
als die reife Frucht einer ganz innerlichen, freiwilligen und freiheitlichen
Entwicklung, die kein einzelner Mensch beschleunigen, aber wohl auch keiner
wesentlich hemmen kann. Der Einheitsstaat ist uns genau wie den Süddeut¬
schen reine Glaubenesache, nur mit dem Unterschiede, daß unser Glaube
Hoffnung, der ihre bisher Furcht war; wenn diese Furcht dereinst sich in der
Stille von selbst in Hoffnung umgewandelt haben wird, dann erst wird der
deutsche Einheitsstaat ins Leben treten. Bis dahin aber hat's noch gar gute
Wege, die jetzige Anncxionsfrage hat weder an sich noch in ihren Folgen das
mindeste damit zu thun.

Kehren wir zu ihr zurück und betrachten sie in ihrer ganzen Einfachheit,
so lautet sie: wie wird, was wir aus französischen Händen für Deutschland
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[0447] Süddeutschen die lebhafteste Abneigung gegen den Eintritt in unseren Bund herrschte, aus keinem anderen Grunde, als aus der thörichten Furcht, wir wollten ihnen an ihr territoriales Leben, wir würden in unserem unersätt¬ lichen Annexionshunger sie alsbald verschlingen in den Einheitsstaat, der ja der Mehrzahl von uns als Ideal vor der Seele schwebt. Da schien es denn kein besseres Mittel zu geben, um diese Furcht zu zerstreuen, als wenn wir die Staaten, die von uns den Untergang oder doch Schwächung und Verkleinerung erwarteten, nicht blos erhielten, sondern geradezu vergrößerten und verstärkten. Diese Argumentation, so politisch weise, so vorsichtig und uneigennützig sie sich ausnimmt, ist gleichwohl falsch. Die Einigung im gesammtdeutschen Bunde, nach der wir streben, ist kein Handelsgeschäft. Der nationalen Begeisterung, dem schmerzlicherhebenden Andenken an gemeinsam ruhmvoll vergossenes Blut wird sie ihr Dasein verdanken; vor solcher Sonne wird hinwegthauen, was noch an gegenseitigem Mißtraun, an verkennender Ent¬ fremdung vorhanden war. Mit äußeren Gaben könnte man doch innere Abneigung niemals beschwichtigen. Auch läge in der beabsichtigten Vergröße¬ rung, die dem schärferen Auge nie als eine Stärkung, sondern umgekehrt als eine Schwächung der Vergrößerter sich darstellen muß, wahrhaftig kein Schutz der Südstaaten gegen unseren Trieb zum Einheitsstaate, wenn dieser näm¬ lich wirklich so beschaffen wäre, wie man sich ihn jenseits des Mains ängst¬ lich ausmalt. Wären wir denn solche Verschlinger, so würde es unseren armen Opfern wenig frommen, wollten wir sie uns vor der Mahlzeit noch ein wenig heranmästen. Nun denkt aber kein Mensch in Preußen daran, den Einheitsstaat jemals auch nur mit dem leisesten Drucke auf unsere deutschen Brüder schaffen zu können oder zu wollen. Wir wissen sehr gut, daß jeder Versuch dazu seine Verwirklichung nur erschweren und verzögern, vielleicht unmöglich machen würde. Der Einheitsstaat ist uns allen durchaus nur ein Ideal für eine wohl noch sehr ferne Zukunft; wir erwarten sein Erscheinen einzig als die reife Frucht einer ganz innerlichen, freiwilligen und freiheitlichen Entwicklung, die kein einzelner Mensch beschleunigen, aber wohl auch keiner wesentlich hemmen kann. Der Einheitsstaat ist uns genau wie den Süddeut¬ schen reine Glaubenesache, nur mit dem Unterschiede, daß unser Glaube Hoffnung, der ihre bisher Furcht war; wenn diese Furcht dereinst sich in der Stille von selbst in Hoffnung umgewandelt haben wird, dann erst wird der deutsche Einheitsstaat ins Leben treten. Bis dahin aber hat's noch gar gute Wege, die jetzige Anncxionsfrage hat weder an sich noch in ihren Folgen das mindeste damit zu thun. Kehren wir zu ihr zurück und betrachten sie in ihrer ganzen Einfachheit, so lautet sie: wie wird, was wir aus französischen Händen für Deutschland * 57

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/447>, abgerufen am 29.06.2024.