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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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müssen wir heut diese Grenzen wieder zurückschieben und zwar so weit, daß
die Gefahr für uns beseitigt wird, wäre es selbst zum Theil auf Kosten der
französischen Nationalität in ihrer heutigen Ausdehnung, aber -- eben hier¬
durch wird die Vergeltung, die wir üben, weise und sittlich sein -- nicht
über unser Bedürfniß hinaus. Aus dem Naturrecht also unserer gegenwär¬
tigen Sicherung und unseres künftigen Gedeihens heraus möchte ich das
Maß unserer Forderung begründet sehen, nicht aus dem historischen
Recht unseres Besitzes in irgend welcher Vergangenheit. Welche Richt¬
schnur auch wollte man aus dem verworrenen Geflecht unserer neue¬
ren Geschichte zum heutigen Gebrauch herausziehen, welchen Friedens¬
schluß, welches Normaljahr zu Grunde legen? Die Romantik der Reichs¬
erinnerungen ist unentbehrlich für Herz und Sinn unseres Volkes, für die
Politik aber ist sie eben Romantik. Wir können das alte Reich nicht wieder¬
gründen wollen, seine Tage sind unwiederbringlich dahin; die römisch-kirchlichen
Wurzeln seiner Kaiseridee abgestorben, seine unermeßlichen Ansprüche würden
ganz Europa mit Recht wider uns aufregen, den festen Grund unserer eige¬
nen heutigen Stärke, den nationalen Gedanken würden sie untergraben. Es
ist ein neues Haus, das wir zu bauen unternehmen, sollen wir darum die
Fundamente des alten wieder benutzen, weil es darüber eingestürzt ist?

Ich hoffe, den historischen Boden unserer Annexionsfrage von Senti¬
mentalitäten wie von Racheplanen nach dem kahlen Schema "Auge um Auge"
reingefegt zu haben. Es bleibt immer genug aus der geschichtlichen Betrach¬
tung übrig, um die geographischen und nationalen Gesichtspunkte, die uns
beim Setzen unserer neuen Grenzsteine leiten müssen, in helleres Licht zu
stellen. Daß man die Frage von Elsaß und Lothringen zunächst zu trennen
habe, geht gewiß für den Unbefangenen auch aus ihrer Geschichte, besonders
der mittelalterlichen, deutlich hervor.

Ueber das Elsaß wird nirgends eine wesentliche Meinungsverschiedenheit
herrschen. Wir haben uns von seiner völligen natürlich geographischen Zu¬
sammengehörigkeit mit dem übrigen Oberrheinthale klärlich überzeugt. Wir
haben gesehen, wie es hierdurch begünstigt sich frühzeitig aus dem Strudel der
lotharingischen Geschicke herauszog und mit seiner stammhaften Bevölkerung sich
dem ganz homogenen diesseitigen Alemannien zu einheitlichem Dasein aus
mehr als acht Jahrhunderte wieder verband. Daß es Frankreich davon
wieder abriß, gehörte in keiner Weise in dessen nothwendige Defension, Es
liegt durchweg außerhalb der Werke, welche die große Festung, zu der Lud¬
wig XIV. sein Reich umschaffen wollte, natürlich constituiren, und es ist
immer nur ein befestigtes Raubschloß auf deutscher Flußstraße gewesen, des¬
halb muß es endlich niedergebrochen werden. Dies eine künstlich wieder auf¬
gerichtete Stück der cäsarischen Rheingrenze ruft immerfort das alte Phan-


müssen wir heut diese Grenzen wieder zurückschieben und zwar so weit, daß
die Gefahr für uns beseitigt wird, wäre es selbst zum Theil auf Kosten der
französischen Nationalität in ihrer heutigen Ausdehnung, aber — eben hier¬
durch wird die Vergeltung, die wir üben, weise und sittlich sein — nicht
über unser Bedürfniß hinaus. Aus dem Naturrecht also unserer gegenwär¬
tigen Sicherung und unseres künftigen Gedeihens heraus möchte ich das
Maß unserer Forderung begründet sehen, nicht aus dem historischen
Recht unseres Besitzes in irgend welcher Vergangenheit. Welche Richt¬
schnur auch wollte man aus dem verworrenen Geflecht unserer neue¬
ren Geschichte zum heutigen Gebrauch herausziehen, welchen Friedens¬
schluß, welches Normaljahr zu Grunde legen? Die Romantik der Reichs¬
erinnerungen ist unentbehrlich für Herz und Sinn unseres Volkes, für die
Politik aber ist sie eben Romantik. Wir können das alte Reich nicht wieder¬
gründen wollen, seine Tage sind unwiederbringlich dahin; die römisch-kirchlichen
Wurzeln seiner Kaiseridee abgestorben, seine unermeßlichen Ansprüche würden
ganz Europa mit Recht wider uns aufregen, den festen Grund unserer eige¬
nen heutigen Stärke, den nationalen Gedanken würden sie untergraben. Es
ist ein neues Haus, das wir zu bauen unternehmen, sollen wir darum die
Fundamente des alten wieder benutzen, weil es darüber eingestürzt ist?

Ich hoffe, den historischen Boden unserer Annexionsfrage von Senti¬
mentalitäten wie von Racheplanen nach dem kahlen Schema „Auge um Auge"
reingefegt zu haben. Es bleibt immer genug aus der geschichtlichen Betrach¬
tung übrig, um die geographischen und nationalen Gesichtspunkte, die uns
beim Setzen unserer neuen Grenzsteine leiten müssen, in helleres Licht zu
stellen. Daß man die Frage von Elsaß und Lothringen zunächst zu trennen
habe, geht gewiß für den Unbefangenen auch aus ihrer Geschichte, besonders
der mittelalterlichen, deutlich hervor.

Ueber das Elsaß wird nirgends eine wesentliche Meinungsverschiedenheit
herrschen. Wir haben uns von seiner völligen natürlich geographischen Zu¬
sammengehörigkeit mit dem übrigen Oberrheinthale klärlich überzeugt. Wir
haben gesehen, wie es hierdurch begünstigt sich frühzeitig aus dem Strudel der
lotharingischen Geschicke herauszog und mit seiner stammhaften Bevölkerung sich
dem ganz homogenen diesseitigen Alemannien zu einheitlichem Dasein aus
mehr als acht Jahrhunderte wieder verband. Daß es Frankreich davon
wieder abriß, gehörte in keiner Weise in dessen nothwendige Defension, Es
liegt durchweg außerhalb der Werke, welche die große Festung, zu der Lud¬
wig XIV. sein Reich umschaffen wollte, natürlich constituiren, und es ist
immer nur ein befestigtes Raubschloß auf deutscher Flußstraße gewesen, des¬
halb muß es endlich niedergebrochen werden. Dies eine künstlich wieder auf¬
gerichtete Stück der cäsarischen Rheingrenze ruft immerfort das alte Phan-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/441>, abgerufen am 29.06.2024.