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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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in Abrede stellt, in der That eine arge Ketzerei gegen das Pariser Dogma.
"Denn", fährt Mistral fort, "was unterworfen ward, war, wohlgemerkt,
weniger der Süden materiell, als der Geist des Südens" -- der von der
französischen Barbarei niedergedrückt worden sei. "Ramoun VII., der letzte
Graf von Toulouse, gewann seine Staaten zurück und entäußerte sich der¬
selben erst 1229, unter gegenseitigem Uebereinkommen (as Zr6 Z, Zrs) und
zu Gunsten von Louis IX. Königreich und Grafschaft Provence bestand
noch lange, und erst 1486 geschah es, daß unser Vaterland sich frei an
Frankreich anschloß, nicht wie ein Beifügsel an eine Hauptsache, sondern wie
Selbständiges an Selbständiges (non comme un aeeessoirs g, un Princips,!,
wais ovinus un xrineixal ^ un autrs xrineixg.1. Mistral ist Iiieeneiö en
Aron). Aber der autochthone Saft, der sich ausgebreitet in eine neue, ele¬
gante, chevalereske Poesie, die südländische Kühnheit, die schon den Gedanken
und die Wissenschaft emancipirte, der municipale Aufschwung, der aus unseren
Städten ebenso viele Republiken gemacht hatte, das öffentliche Leben endlich,
das in breiten Fluthen die ganze Nation (die occitanische) durchströmte, alle
diese Quellen der Bildung (pvliwsss), der Unabhängigkeit und der Männlich¬
keit waren vertrocknet, ach! für manches Jahrhundert. Auch wir, wie könnt'
es anders sein? -- so sehr die französischen Historiker unsre Sache im All¬
gemeinen verdammen, -- wenn wir in den provenzalischen Chroniken den
schmerzlichen Bericht lesen über diesen Krieg, unsre verwüsteten Ländereien,
unsre geplünderten Städte, das in den Kirchen niedergemetzelte Volk, die
Beraubung und Demüthigung des glänzenden Adels des Landes, des treff¬
lichen Grafen von Toulouse, und andrerseits den tapfern Widerstand unserer
Väter unter den enthusiastischen Rufen: Toulouse! Marseille! Avignon!
Provence! -- unmöglich ists, daß unser Blut nicht aufwallen sollte und mit
Lucanus sprechen: Die siegende Sache gefiel den Göttern, doch dem Cato
die besiegte." Entrüstet zeigt sich Mistral über das unerbittliche Interdict,
durch welches das occitanische Idiom noch immer aus den Schulen verbannt
sei. Bezahlen wir in Südfrankreich, fragt er, nicht etwa ebenso gut wie die
Andern unsre Land- und Blutsteuer? (Anm. 10 zu Geh. 4).

Mistral hat nur dem, was Viele fühlten, beredten Ausdruck und kun¬
dige Begründung gegeben und dadurch wiederum Viele für dieselben Gefühle
und Wünsche gewonnen. Die Franzosen beobachteten Schweigen, ein Pro-
venzale machte sich zum Vorfechter des französischen Einheitsgedankens. In
dem Buche "I."s I'rg.n^ais an mora et an nisi" hat 1868 Garcin die Mi-
stral'sche Theorie als grundstürzend für die französische Nationalidee ange¬
gegriffen. Eugen Garcin, obwohl nicht ohne Geist und Belesenheit und nicht
blind gegen die Mängel der französischen Geistesart, der er sogar Eitelkeit


Grenzboten III. 1370. 55

in Abrede stellt, in der That eine arge Ketzerei gegen das Pariser Dogma.
„Denn", fährt Mistral fort, „was unterworfen ward, war, wohlgemerkt,
weniger der Süden materiell, als der Geist des Südens" — der von der
französischen Barbarei niedergedrückt worden sei. „Ramoun VII., der letzte
Graf von Toulouse, gewann seine Staaten zurück und entäußerte sich der¬
selben erst 1229, unter gegenseitigem Uebereinkommen (as Zr6 Z, Zrs) und
zu Gunsten von Louis IX. Königreich und Grafschaft Provence bestand
noch lange, und erst 1486 geschah es, daß unser Vaterland sich frei an
Frankreich anschloß, nicht wie ein Beifügsel an eine Hauptsache, sondern wie
Selbständiges an Selbständiges (non comme un aeeessoirs g, un Princips,!,
wais ovinus un xrineixal ^ un autrs xrineixg.1. Mistral ist Iiieeneiö en
Aron). Aber der autochthone Saft, der sich ausgebreitet in eine neue, ele¬
gante, chevalereske Poesie, die südländische Kühnheit, die schon den Gedanken
und die Wissenschaft emancipirte, der municipale Aufschwung, der aus unseren
Städten ebenso viele Republiken gemacht hatte, das öffentliche Leben endlich,
das in breiten Fluthen die ganze Nation (die occitanische) durchströmte, alle
diese Quellen der Bildung (pvliwsss), der Unabhängigkeit und der Männlich¬
keit waren vertrocknet, ach! für manches Jahrhundert. Auch wir, wie könnt'
es anders sein? — so sehr die französischen Historiker unsre Sache im All¬
gemeinen verdammen, — wenn wir in den provenzalischen Chroniken den
schmerzlichen Bericht lesen über diesen Krieg, unsre verwüsteten Ländereien,
unsre geplünderten Städte, das in den Kirchen niedergemetzelte Volk, die
Beraubung und Demüthigung des glänzenden Adels des Landes, des treff¬
lichen Grafen von Toulouse, und andrerseits den tapfern Widerstand unserer
Väter unter den enthusiastischen Rufen: Toulouse! Marseille! Avignon!
Provence! — unmöglich ists, daß unser Blut nicht aufwallen sollte und mit
Lucanus sprechen: Die siegende Sache gefiel den Göttern, doch dem Cato
die besiegte." Entrüstet zeigt sich Mistral über das unerbittliche Interdict,
durch welches das occitanische Idiom noch immer aus den Schulen verbannt
sei. Bezahlen wir in Südfrankreich, fragt er, nicht etwa ebenso gut wie die
Andern unsre Land- und Blutsteuer? (Anm. 10 zu Geh. 4).

Mistral hat nur dem, was Viele fühlten, beredten Ausdruck und kun¬
dige Begründung gegeben und dadurch wiederum Viele für dieselben Gefühle
und Wünsche gewonnen. Die Franzosen beobachteten Schweigen, ein Pro-
venzale machte sich zum Vorfechter des französischen Einheitsgedankens. In
dem Buche „I.«s I'rg.n^ais an mora et an nisi" hat 1868 Garcin die Mi-
stral'sche Theorie als grundstürzend für die französische Nationalidee ange¬
gegriffen. Eugen Garcin, obwohl nicht ohne Geist und Belesenheit und nicht
blind gegen die Mängel der französischen Geistesart, der er sogar Eitelkeit


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[0429] in Abrede stellt, in der That eine arge Ketzerei gegen das Pariser Dogma. „Denn", fährt Mistral fort, „was unterworfen ward, war, wohlgemerkt, weniger der Süden materiell, als der Geist des Südens" — der von der französischen Barbarei niedergedrückt worden sei. „Ramoun VII., der letzte Graf von Toulouse, gewann seine Staaten zurück und entäußerte sich der¬ selben erst 1229, unter gegenseitigem Uebereinkommen (as Zr6 Z, Zrs) und zu Gunsten von Louis IX. Königreich und Grafschaft Provence bestand noch lange, und erst 1486 geschah es, daß unser Vaterland sich frei an Frankreich anschloß, nicht wie ein Beifügsel an eine Hauptsache, sondern wie Selbständiges an Selbständiges (non comme un aeeessoirs g, un Princips,!, wais ovinus un xrineixal ^ un autrs xrineixg.1. Mistral ist Iiieeneiö en Aron). Aber der autochthone Saft, der sich ausgebreitet in eine neue, ele¬ gante, chevalereske Poesie, die südländische Kühnheit, die schon den Gedanken und die Wissenschaft emancipirte, der municipale Aufschwung, der aus unseren Städten ebenso viele Republiken gemacht hatte, das öffentliche Leben endlich, das in breiten Fluthen die ganze Nation (die occitanische) durchströmte, alle diese Quellen der Bildung (pvliwsss), der Unabhängigkeit und der Männlich¬ keit waren vertrocknet, ach! für manches Jahrhundert. Auch wir, wie könnt' es anders sein? — so sehr die französischen Historiker unsre Sache im All¬ gemeinen verdammen, — wenn wir in den provenzalischen Chroniken den schmerzlichen Bericht lesen über diesen Krieg, unsre verwüsteten Ländereien, unsre geplünderten Städte, das in den Kirchen niedergemetzelte Volk, die Beraubung und Demüthigung des glänzenden Adels des Landes, des treff¬ lichen Grafen von Toulouse, und andrerseits den tapfern Widerstand unserer Väter unter den enthusiastischen Rufen: Toulouse! Marseille! Avignon! Provence! — unmöglich ists, daß unser Blut nicht aufwallen sollte und mit Lucanus sprechen: Die siegende Sache gefiel den Göttern, doch dem Cato die besiegte." Entrüstet zeigt sich Mistral über das unerbittliche Interdict, durch welches das occitanische Idiom noch immer aus den Schulen verbannt sei. Bezahlen wir in Südfrankreich, fragt er, nicht etwa ebenso gut wie die Andern unsre Land- und Blutsteuer? (Anm. 10 zu Geh. 4). Mistral hat nur dem, was Viele fühlten, beredten Ausdruck und kun¬ dige Begründung gegeben und dadurch wiederum Viele für dieselben Gefühle und Wünsche gewonnen. Die Franzosen beobachteten Schweigen, ein Pro- venzale machte sich zum Vorfechter des französischen Einheitsgedankens. In dem Buche „I.«s I'rg.n^ais an mora et an nisi" hat 1868 Garcin die Mi- stral'sche Theorie als grundstürzend für die französische Nationalidee ange¬ gegriffen. Eugen Garcin, obwohl nicht ohne Geist und Belesenheit und nicht blind gegen die Mängel der französischen Geistesart, der er sogar Eitelkeit Grenzboten III. 1370. 55

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/429>, abgerufen am 29.06.2024.