Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ranz, sowie der Sittenfeinheit und der materiellen Prosperität. Die Regierung
dieser Fürsten hat einen Abglanz von jenem Licht, welches in der Geschichte die
Epoche des Perikles und die der Medici vergoldet" (Anm. 9 zu Gesang 4). Gleich
in einer der ersten Erläuterungen zu diesem Epos (Anm. 2 zu Gesang 1) ergreift
Mistral die Gelegenheit, die gänzliche Unterwerfung seines Südens durch
die envadisseurs an mora zu beklagen. "Obwohl der Kreuzzug unter dem
Befehl Simons von Montfort angeblich nur gegen die Häretiker des Sü¬
dens und später gegen den Grafen von Toulouse gerichtet war, begriffen
doch die freien Städte der Provence bewundrungswürdig gut, daß hinter
dem religiösen Vorwand sich ein Racen-Antagonismus verbarg, und nahmen,
obgleich sehr katholisch, doch kühn Partei gegen die Kreuzfahrer. Man muß
übrigens sagen, daß diese Einsicht der Nationalität sich von selbst in allen
Landschaften der Langue d'oc kundthat, d. h. von den Alpen bis an den
gasconischen Golf, und von der Loire bis zum Ebro. Diese Völkerschaften,
allezeit sympathisch unter einander durch Aehnlichkeit des Klimas, der Neigun¬
gen, Sitten, Glaubensannahmen, der Gesetzgebung und der Sprache, fanden
sich in jener Epoche bereit, einen Staat von vereinigten Provinzen zu bilden
(nretss a körner un etat as ?rovive6L-lHni<ZL). Ihre Nationalität, offen¬
bart und fortgepflanzt durch die Gesänge der Troubadours, war reißend
schnell gereift unter der Sonne der localen Freiheiten. Um dieser zerstreuten
Macht ein kräftiges Selbstbewußtsein zu erwecken, bedürfte es nur einer
Gelegenheit: eines Krieges in gemeinschaftlichem Interesse. Dieser Krieg
bot sich dar, aber unter unglücklichen Umständen. Der Norden, bewaffnet
durch die Kirche, unterstützt durch jenen ungeheuren Einfluß, der in den
Kreuzzügen Europa gegen Asien wälzte, hatte in seinem Dienst die unzäh¬
ligen Massen der Christenheit und zu seiner Hilfe die Exaltation des Fana¬
tismus. Der Süden, der Ketzerei beschuldigt, so wenig er dieselbe gern sah,
bearbeitet durch die Predigermönche, verheert durch die Inquisition, verdächtig
seinen natürlichen Verbündeten und Vertheidigern (unter Anderen dem Grafen
von Provence), brachte, weil ein geschickter und energischer Führer mangelte,
mehr Heroismus als Zusammenwirken in diesen Kampf mit, und unterlag.
So mußte es kommen, scheint es, damit das alte Gallien zum modernen
Frankreich werde. Nur würden die Südbewohner vorgezogen haben, daß
es freundschaftlicher dabei zugegangen wäre, und gewünscht haben, daß die
Verschmelzung nicht weiter gegangen wäre als bis zum Staatenbund (quo
ig. tusion n'uMt xas an-actu as 1'6we 56ä6ratit'). Es ist immer ein großes
Unglück, wenn wegen Ueberrumpelung die Civilisation der Barbarei den
Vortritt lassen muß, und der Triumph der Franzen (?lÄiiMmg.nah) verzögerte
den Marsch des Fortschritts um zwei Jahrhunderte." Also die Franzosen
marschirten nicht an der Spitze der Civilisation? Der Occitanier ists, der es


ranz, sowie der Sittenfeinheit und der materiellen Prosperität. Die Regierung
dieser Fürsten hat einen Abglanz von jenem Licht, welches in der Geschichte die
Epoche des Perikles und die der Medici vergoldet" (Anm. 9 zu Gesang 4). Gleich
in einer der ersten Erläuterungen zu diesem Epos (Anm. 2 zu Gesang 1) ergreift
Mistral die Gelegenheit, die gänzliche Unterwerfung seines Südens durch
die envadisseurs an mora zu beklagen. „Obwohl der Kreuzzug unter dem
Befehl Simons von Montfort angeblich nur gegen die Häretiker des Sü¬
dens und später gegen den Grafen von Toulouse gerichtet war, begriffen
doch die freien Städte der Provence bewundrungswürdig gut, daß hinter
dem religiösen Vorwand sich ein Racen-Antagonismus verbarg, und nahmen,
obgleich sehr katholisch, doch kühn Partei gegen die Kreuzfahrer. Man muß
übrigens sagen, daß diese Einsicht der Nationalität sich von selbst in allen
Landschaften der Langue d'oc kundthat, d. h. von den Alpen bis an den
gasconischen Golf, und von der Loire bis zum Ebro. Diese Völkerschaften,
allezeit sympathisch unter einander durch Aehnlichkeit des Klimas, der Neigun¬
gen, Sitten, Glaubensannahmen, der Gesetzgebung und der Sprache, fanden
sich in jener Epoche bereit, einen Staat von vereinigten Provinzen zu bilden
(nretss a körner un etat as ?rovive6L-lHni<ZL). Ihre Nationalität, offen¬
bart und fortgepflanzt durch die Gesänge der Troubadours, war reißend
schnell gereift unter der Sonne der localen Freiheiten. Um dieser zerstreuten
Macht ein kräftiges Selbstbewußtsein zu erwecken, bedürfte es nur einer
Gelegenheit: eines Krieges in gemeinschaftlichem Interesse. Dieser Krieg
bot sich dar, aber unter unglücklichen Umständen. Der Norden, bewaffnet
durch die Kirche, unterstützt durch jenen ungeheuren Einfluß, der in den
Kreuzzügen Europa gegen Asien wälzte, hatte in seinem Dienst die unzäh¬
ligen Massen der Christenheit und zu seiner Hilfe die Exaltation des Fana¬
tismus. Der Süden, der Ketzerei beschuldigt, so wenig er dieselbe gern sah,
bearbeitet durch die Predigermönche, verheert durch die Inquisition, verdächtig
seinen natürlichen Verbündeten und Vertheidigern (unter Anderen dem Grafen
von Provence), brachte, weil ein geschickter und energischer Führer mangelte,
mehr Heroismus als Zusammenwirken in diesen Kampf mit, und unterlag.
So mußte es kommen, scheint es, damit das alte Gallien zum modernen
Frankreich werde. Nur würden die Südbewohner vorgezogen haben, daß
es freundschaftlicher dabei zugegangen wäre, und gewünscht haben, daß die
Verschmelzung nicht weiter gegangen wäre als bis zum Staatenbund (quo
ig. tusion n'uMt xas an-actu as 1'6we 56ä6ratit'). Es ist immer ein großes
Unglück, wenn wegen Ueberrumpelung die Civilisation der Barbarei den
Vortritt lassen muß, und der Triumph der Franzen (?lÄiiMmg.nah) verzögerte
den Marsch des Fortschritts um zwei Jahrhunderte." Also die Franzosen
marschirten nicht an der Spitze der Civilisation? Der Occitanier ists, der es


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0428" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124578"/>
          <p xml:id="ID_1256" prev="#ID_1255" next="#ID_1257"> ranz, sowie der Sittenfeinheit und der materiellen Prosperität. Die Regierung<lb/>
dieser Fürsten hat einen Abglanz von jenem Licht, welches in der Geschichte die<lb/>
Epoche des Perikles und die der Medici vergoldet" (Anm. 9 zu Gesang 4). Gleich<lb/>
in einer der ersten Erläuterungen zu diesem Epos (Anm. 2 zu Gesang 1) ergreift<lb/>
Mistral die Gelegenheit, die gänzliche Unterwerfung seines Südens durch<lb/>
die envadisseurs an mora zu beklagen. &#x201E;Obwohl der Kreuzzug unter dem<lb/>
Befehl Simons von Montfort angeblich nur gegen die Häretiker des Sü¬<lb/>
dens und später gegen den Grafen von Toulouse gerichtet war, begriffen<lb/>
doch die freien Städte der Provence bewundrungswürdig gut, daß hinter<lb/>
dem religiösen Vorwand sich ein Racen-Antagonismus verbarg, und nahmen,<lb/>
obgleich sehr katholisch, doch kühn Partei gegen die Kreuzfahrer. Man muß<lb/>
übrigens sagen, daß diese Einsicht der Nationalität sich von selbst in allen<lb/>
Landschaften der Langue d'oc kundthat, d. h. von den Alpen bis an den<lb/>
gasconischen Golf, und von der Loire bis zum Ebro. Diese Völkerschaften,<lb/>
allezeit sympathisch unter einander durch Aehnlichkeit des Klimas, der Neigun¬<lb/>
gen, Sitten, Glaubensannahmen, der Gesetzgebung und der Sprache, fanden<lb/>
sich in jener Epoche bereit, einen Staat von vereinigten Provinzen zu bilden<lb/>
(nretss a körner un etat as ?rovive6L-lHni&lt;ZL). Ihre Nationalität, offen¬<lb/>
bart und fortgepflanzt durch die Gesänge der Troubadours, war reißend<lb/>
schnell gereift unter der Sonne der localen Freiheiten. Um dieser zerstreuten<lb/>
Macht ein kräftiges Selbstbewußtsein zu erwecken, bedürfte es nur einer<lb/>
Gelegenheit: eines Krieges in gemeinschaftlichem Interesse. Dieser Krieg<lb/>
bot sich dar, aber unter unglücklichen Umständen. Der Norden, bewaffnet<lb/>
durch die Kirche, unterstützt durch jenen ungeheuren Einfluß, der in den<lb/>
Kreuzzügen Europa gegen Asien wälzte, hatte in seinem Dienst die unzäh¬<lb/>
ligen Massen der Christenheit und zu seiner Hilfe die Exaltation des Fana¬<lb/>
tismus. Der Süden, der Ketzerei beschuldigt, so wenig er dieselbe gern sah,<lb/>
bearbeitet durch die Predigermönche, verheert durch die Inquisition, verdächtig<lb/>
seinen natürlichen Verbündeten und Vertheidigern (unter Anderen dem Grafen<lb/>
von Provence), brachte, weil ein geschickter und energischer Führer mangelte,<lb/>
mehr Heroismus als Zusammenwirken in diesen Kampf mit, und unterlag.<lb/>
So mußte es kommen, scheint es, damit das alte Gallien zum modernen<lb/>
Frankreich werde. Nur würden die Südbewohner vorgezogen haben, daß<lb/>
es freundschaftlicher dabei zugegangen wäre, und gewünscht haben, daß die<lb/>
Verschmelzung nicht weiter gegangen wäre als bis zum Staatenbund (quo<lb/>
ig. tusion n'uMt xas an-actu as 1'6we 56ä6ratit'). Es ist immer ein großes<lb/>
Unglück, wenn wegen Ueberrumpelung die Civilisation der Barbarei den<lb/>
Vortritt lassen muß, und der Triumph der Franzen (?lÄiiMmg.nah) verzögerte<lb/>
den Marsch des Fortschritts um zwei Jahrhunderte." Also die Franzosen<lb/>
marschirten nicht an der Spitze der Civilisation? Der Occitanier ists, der es</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0428] ranz, sowie der Sittenfeinheit und der materiellen Prosperität. Die Regierung dieser Fürsten hat einen Abglanz von jenem Licht, welches in der Geschichte die Epoche des Perikles und die der Medici vergoldet" (Anm. 9 zu Gesang 4). Gleich in einer der ersten Erläuterungen zu diesem Epos (Anm. 2 zu Gesang 1) ergreift Mistral die Gelegenheit, die gänzliche Unterwerfung seines Südens durch die envadisseurs an mora zu beklagen. „Obwohl der Kreuzzug unter dem Befehl Simons von Montfort angeblich nur gegen die Häretiker des Sü¬ dens und später gegen den Grafen von Toulouse gerichtet war, begriffen doch die freien Städte der Provence bewundrungswürdig gut, daß hinter dem religiösen Vorwand sich ein Racen-Antagonismus verbarg, und nahmen, obgleich sehr katholisch, doch kühn Partei gegen die Kreuzfahrer. Man muß übrigens sagen, daß diese Einsicht der Nationalität sich von selbst in allen Landschaften der Langue d'oc kundthat, d. h. von den Alpen bis an den gasconischen Golf, und von der Loire bis zum Ebro. Diese Völkerschaften, allezeit sympathisch unter einander durch Aehnlichkeit des Klimas, der Neigun¬ gen, Sitten, Glaubensannahmen, der Gesetzgebung und der Sprache, fanden sich in jener Epoche bereit, einen Staat von vereinigten Provinzen zu bilden (nretss a körner un etat as ?rovive6L-lHni<ZL). Ihre Nationalität, offen¬ bart und fortgepflanzt durch die Gesänge der Troubadours, war reißend schnell gereift unter der Sonne der localen Freiheiten. Um dieser zerstreuten Macht ein kräftiges Selbstbewußtsein zu erwecken, bedürfte es nur einer Gelegenheit: eines Krieges in gemeinschaftlichem Interesse. Dieser Krieg bot sich dar, aber unter unglücklichen Umständen. Der Norden, bewaffnet durch die Kirche, unterstützt durch jenen ungeheuren Einfluß, der in den Kreuzzügen Europa gegen Asien wälzte, hatte in seinem Dienst die unzäh¬ ligen Massen der Christenheit und zu seiner Hilfe die Exaltation des Fana¬ tismus. Der Süden, der Ketzerei beschuldigt, so wenig er dieselbe gern sah, bearbeitet durch die Predigermönche, verheert durch die Inquisition, verdächtig seinen natürlichen Verbündeten und Vertheidigern (unter Anderen dem Grafen von Provence), brachte, weil ein geschickter und energischer Führer mangelte, mehr Heroismus als Zusammenwirken in diesen Kampf mit, und unterlag. So mußte es kommen, scheint es, damit das alte Gallien zum modernen Frankreich werde. Nur würden die Südbewohner vorgezogen haben, daß es freundschaftlicher dabei zugegangen wäre, und gewünscht haben, daß die Verschmelzung nicht weiter gegangen wäre als bis zum Staatenbund (quo ig. tusion n'uMt xas an-actu as 1'6we 56ä6ratit'). Es ist immer ein großes Unglück, wenn wegen Ueberrumpelung die Civilisation der Barbarei den Vortritt lassen muß, und der Triumph der Franzen (?lÄiiMmg.nah) verzögerte den Marsch des Fortschritts um zwei Jahrhunderte." Also die Franzosen marschirten nicht an der Spitze der Civilisation? Der Occitanier ists, der es

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/428
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/428>, abgerufen am 29.06.2024.