Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Wollte man glauben, Mistral eifre hier gegen den Druck, den die römische
Kirche übt, so würde man sich durch den Anschein täuschen lassen. Der
Dichter vermeidet sonst möglichst, mit dieser Macht in Streit zu gerathen.

Das Kloster ist vielmehr das französische Staatswesen mit seiner uniformiren-
den Centralisation, und die Aebtissin ist die Tyrannei der Metropole Paris.
Und der catalonische Freund mochte die entsprechende Anwendung auf der
Pyrenäenhalbinsel machen.

Das Gedicht ist laut Unterschrift am 22. August 1866 entstanden.

Seltsam genug, daß ein Bonaparte dem Oceitanier zugerufen hat: ich
weiß dich zu verstehen, ja, ich will dir folgen, nämlich Bonaparte-Wyse, der
Jrländer, der in provenzalischer Sprache dichtet, ein Mitglied des proven-
zalischen Dichterbundes. Der gefangenen Gräfin stellt er die Dulderin zur
Seite, die unter den Sternen des Nordens über ihrer goldenen Harfe seufze,
und als dritte das unglückliche Polen. Es ist dies sicherlich folgerichtiger als,
wie es die Franzosen thun, Klagelieder über Polen und Irland zu singen,
ohne etwas davon wissen zu wollen, daß Frankreich die occitanische Natio¬
nalität ungleich vollständiger unterdrückt.

Nichts anderes als die Hoffnung des Südens auf Befreiung von der
Faust des französischen Nordens ist der Gegenstand auch des Epos Calendau,
welches Mistral in demselben Jahre 1867 herausgab: Der Fischer Calendau
erkämpft sich den Besitz der Fee Esterelle, die ein frecher Räuber in seine
Gewalt gebracht hat. Auf dem Titelblatte prangt das ältere Wappen der
Provence, das links Cataloniens und Aragoniens rothe Streifen auf Gold¬
grund zeigt, rechts auf Blau die goldenen Lilien Frankreichs mit dem rothen
Kragen (lautet), -- der getheilte Schild des ersten Hauses Anjou. "Die
den Provenzalen sehr sympathischen catalanischen Farben," bemerkt der Verf. in
einer Anmerkung (6 zu Gesang 10), "sind aus dem Wappenschilde der Pro¬
vence erst unter den Anjouischen Fürsten des zweiten Zweiges verschwunden.
Was die einzelne Lilie betrifft, die in der Provence nicht länger als seit
drittehalb Jahrhunderten gebraucht ist, so hat dieselbe keinerlei nationale
Bedeutsamkeit, und ihre Anwendung fällt viel später als die Regierung
Karls III. d. h. als die Unabhängigkeit unseres Vaterlandes." Znser' d. h.
der Provenzalen, deren xatiie demMerf. die Provence ist, und ^national' ist
ebenfalls mit Beziehung aus die Oceitanier gesagt. Der occitanische Patrio¬
tismus Mistrals spricht sich in mehren andern Anmerkungen zu Calendau
sehr bezeichnend aus. "Unter den rivalisirenden Dynastien der Namoun-
Berenguie, Grafen von Provence (1112--1246), und der Ramoun von Toulouse,
Souveränen vonLanguedoc, erreichte" -- sagter -- "derSüden, einschließlich des
Limousin und Cataloniens, eine dem allgemeinen Zustande des übrigen Europa
überlegene Stufe politischer Unabhängigkeit, literarischer Cultur, religiöser Tote-


Wollte man glauben, Mistral eifre hier gegen den Druck, den die römische
Kirche übt, so würde man sich durch den Anschein täuschen lassen. Der
Dichter vermeidet sonst möglichst, mit dieser Macht in Streit zu gerathen.

Das Kloster ist vielmehr das französische Staatswesen mit seiner uniformiren-
den Centralisation, und die Aebtissin ist die Tyrannei der Metropole Paris.
Und der catalonische Freund mochte die entsprechende Anwendung auf der
Pyrenäenhalbinsel machen.

Das Gedicht ist laut Unterschrift am 22. August 1866 entstanden.

Seltsam genug, daß ein Bonaparte dem Oceitanier zugerufen hat: ich
weiß dich zu verstehen, ja, ich will dir folgen, nämlich Bonaparte-Wyse, der
Jrländer, der in provenzalischer Sprache dichtet, ein Mitglied des proven-
zalischen Dichterbundes. Der gefangenen Gräfin stellt er die Dulderin zur
Seite, die unter den Sternen des Nordens über ihrer goldenen Harfe seufze,
und als dritte das unglückliche Polen. Es ist dies sicherlich folgerichtiger als,
wie es die Franzosen thun, Klagelieder über Polen und Irland zu singen,
ohne etwas davon wissen zu wollen, daß Frankreich die occitanische Natio¬
nalität ungleich vollständiger unterdrückt.

Nichts anderes als die Hoffnung des Südens auf Befreiung von der
Faust des französischen Nordens ist der Gegenstand auch des Epos Calendau,
welches Mistral in demselben Jahre 1867 herausgab: Der Fischer Calendau
erkämpft sich den Besitz der Fee Esterelle, die ein frecher Räuber in seine
Gewalt gebracht hat. Auf dem Titelblatte prangt das ältere Wappen der
Provence, das links Cataloniens und Aragoniens rothe Streifen auf Gold¬
grund zeigt, rechts auf Blau die goldenen Lilien Frankreichs mit dem rothen
Kragen (lautet), — der getheilte Schild des ersten Hauses Anjou. „Die
den Provenzalen sehr sympathischen catalanischen Farben," bemerkt der Verf. in
einer Anmerkung (6 zu Gesang 10), „sind aus dem Wappenschilde der Pro¬
vence erst unter den Anjouischen Fürsten des zweiten Zweiges verschwunden.
Was die einzelne Lilie betrifft, die in der Provence nicht länger als seit
drittehalb Jahrhunderten gebraucht ist, so hat dieselbe keinerlei nationale
Bedeutsamkeit, und ihre Anwendung fällt viel später als die Regierung
Karls III. d. h. als die Unabhängigkeit unseres Vaterlandes." Znser' d. h.
der Provenzalen, deren xatiie demMerf. die Provence ist, und ^national' ist
ebenfalls mit Beziehung aus die Oceitanier gesagt. Der occitanische Patrio¬
tismus Mistrals spricht sich in mehren andern Anmerkungen zu Calendau
sehr bezeichnend aus. „Unter den rivalisirenden Dynastien der Namoun-
Berenguie, Grafen von Provence (1112—1246), und der Ramoun von Toulouse,
Souveränen vonLanguedoc, erreichte" — sagter — „derSüden, einschließlich des
Limousin und Cataloniens, eine dem allgemeinen Zustande des übrigen Europa
überlegene Stufe politischer Unabhängigkeit, literarischer Cultur, religiöser Tote-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0427" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124577"/>
          <p xml:id="ID_1251"> Wollte man glauben, Mistral eifre hier gegen den Druck, den die römische<lb/>
Kirche übt, so würde man sich durch den Anschein täuschen lassen. Der<lb/>
Dichter vermeidet sonst möglichst, mit dieser Macht in Streit zu gerathen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1252"> Das Kloster ist vielmehr das französische Staatswesen mit seiner uniformiren-<lb/>
den Centralisation, und die Aebtissin ist die Tyrannei der Metropole Paris.<lb/>
Und der catalonische Freund mochte die entsprechende Anwendung auf der<lb/>
Pyrenäenhalbinsel machen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1253"> Das Gedicht ist laut Unterschrift am 22. August 1866 entstanden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1254"> Seltsam genug, daß ein Bonaparte dem Oceitanier zugerufen hat: ich<lb/>
weiß dich zu verstehen, ja, ich will dir folgen, nämlich Bonaparte-Wyse, der<lb/>
Jrländer, der in provenzalischer Sprache dichtet, ein Mitglied des proven-<lb/>
zalischen Dichterbundes. Der gefangenen Gräfin stellt er die Dulderin zur<lb/>
Seite, die unter den Sternen des Nordens über ihrer goldenen Harfe seufze,<lb/>
und als dritte das unglückliche Polen. Es ist dies sicherlich folgerichtiger als,<lb/>
wie es die Franzosen thun, Klagelieder über Polen und Irland zu singen,<lb/>
ohne etwas davon wissen zu wollen, daß Frankreich die occitanische Natio¬<lb/>
nalität ungleich vollständiger unterdrückt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1255" next="#ID_1256"> Nichts anderes als die Hoffnung des Südens auf Befreiung von der<lb/>
Faust des französischen Nordens ist der Gegenstand auch des Epos Calendau,<lb/>
welches Mistral in demselben Jahre 1867 herausgab: Der Fischer Calendau<lb/>
erkämpft sich den Besitz der Fee Esterelle, die ein frecher Räuber in seine<lb/>
Gewalt gebracht hat. Auf dem Titelblatte prangt das ältere Wappen der<lb/>
Provence, das links Cataloniens und Aragoniens rothe Streifen auf Gold¬<lb/>
grund zeigt, rechts auf Blau die goldenen Lilien Frankreichs mit dem rothen<lb/>
Kragen (lautet), &#x2014; der getheilte Schild des ersten Hauses Anjou. &#x201E;Die<lb/>
den Provenzalen sehr sympathischen catalanischen Farben," bemerkt der Verf. in<lb/>
einer Anmerkung (6 zu Gesang 10), &#x201E;sind aus dem Wappenschilde der Pro¬<lb/>
vence erst unter den Anjouischen Fürsten des zweiten Zweiges verschwunden.<lb/>
Was die einzelne Lilie betrifft, die in der Provence nicht länger als seit<lb/>
drittehalb Jahrhunderten gebraucht ist, so hat dieselbe keinerlei nationale<lb/>
Bedeutsamkeit, und ihre Anwendung fällt viel später als die Regierung<lb/>
Karls III. d. h. als die Unabhängigkeit unseres Vaterlandes." Znser' d. h.<lb/>
der Provenzalen, deren xatiie demMerf. die Provence ist, und ^national' ist<lb/>
ebenfalls mit Beziehung aus die Oceitanier gesagt. Der occitanische Patrio¬<lb/>
tismus Mistrals spricht sich in mehren andern Anmerkungen zu Calendau<lb/>
sehr bezeichnend aus. &#x201E;Unter den rivalisirenden Dynastien der Namoun-<lb/>
Berenguie, Grafen von Provence (1112&#x2014;1246), und der Ramoun von Toulouse,<lb/>
Souveränen vonLanguedoc, erreichte" &#x2014; sagter &#x2014; &#x201E;derSüden, einschließlich des<lb/>
Limousin und Cataloniens, eine dem allgemeinen Zustande des übrigen Europa<lb/>
überlegene Stufe politischer Unabhängigkeit, literarischer Cultur, religiöser Tote-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0427] Wollte man glauben, Mistral eifre hier gegen den Druck, den die römische Kirche übt, so würde man sich durch den Anschein täuschen lassen. Der Dichter vermeidet sonst möglichst, mit dieser Macht in Streit zu gerathen. Das Kloster ist vielmehr das französische Staatswesen mit seiner uniformiren- den Centralisation, und die Aebtissin ist die Tyrannei der Metropole Paris. Und der catalonische Freund mochte die entsprechende Anwendung auf der Pyrenäenhalbinsel machen. Das Gedicht ist laut Unterschrift am 22. August 1866 entstanden. Seltsam genug, daß ein Bonaparte dem Oceitanier zugerufen hat: ich weiß dich zu verstehen, ja, ich will dir folgen, nämlich Bonaparte-Wyse, der Jrländer, der in provenzalischer Sprache dichtet, ein Mitglied des proven- zalischen Dichterbundes. Der gefangenen Gräfin stellt er die Dulderin zur Seite, die unter den Sternen des Nordens über ihrer goldenen Harfe seufze, und als dritte das unglückliche Polen. Es ist dies sicherlich folgerichtiger als, wie es die Franzosen thun, Klagelieder über Polen und Irland zu singen, ohne etwas davon wissen zu wollen, daß Frankreich die occitanische Natio¬ nalität ungleich vollständiger unterdrückt. Nichts anderes als die Hoffnung des Südens auf Befreiung von der Faust des französischen Nordens ist der Gegenstand auch des Epos Calendau, welches Mistral in demselben Jahre 1867 herausgab: Der Fischer Calendau erkämpft sich den Besitz der Fee Esterelle, die ein frecher Räuber in seine Gewalt gebracht hat. Auf dem Titelblatte prangt das ältere Wappen der Provence, das links Cataloniens und Aragoniens rothe Streifen auf Gold¬ grund zeigt, rechts auf Blau die goldenen Lilien Frankreichs mit dem rothen Kragen (lautet), — der getheilte Schild des ersten Hauses Anjou. „Die den Provenzalen sehr sympathischen catalanischen Farben," bemerkt der Verf. in einer Anmerkung (6 zu Gesang 10), „sind aus dem Wappenschilde der Pro¬ vence erst unter den Anjouischen Fürsten des zweiten Zweiges verschwunden. Was die einzelne Lilie betrifft, die in der Provence nicht länger als seit drittehalb Jahrhunderten gebraucht ist, so hat dieselbe keinerlei nationale Bedeutsamkeit, und ihre Anwendung fällt viel später als die Regierung Karls III. d. h. als die Unabhängigkeit unseres Vaterlandes." Znser' d. h. der Provenzalen, deren xatiie demMerf. die Provence ist, und ^national' ist ebenfalls mit Beziehung aus die Oceitanier gesagt. Der occitanische Patrio¬ tismus Mistrals spricht sich in mehren andern Anmerkungen zu Calendau sehr bezeichnend aus. „Unter den rivalisirenden Dynastien der Namoun- Berenguie, Grafen von Provence (1112—1246), und der Ramoun von Toulouse, Souveränen vonLanguedoc, erreichte" — sagter — „derSüden, einschließlich des Limousin und Cataloniens, eine dem allgemeinen Zustande des übrigen Europa überlegene Stufe politischer Unabhängigkeit, literarischer Cultur, religiöser Tote-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/427
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/427>, abgerufen am 29.06.2024.