Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

der specifisch französische Gebrauch des Wortes Nation im Sinne von Staats¬
körper ist, geht nicht minder hervor aus der Bemerkung derselben Autorität,
daß man früher an der Universität Paris in der Facultät der H.rtes die
Angehörigen in vier Nationen classificirte: ctus as?rapee, cetis ac?iearäie,
esllö as Uormauäiö, et cetis ü'^llemaZue. Also außer der einheitlichen deut¬
schen Nation gab es eine französische Nation neben einer picardischen Nation
und neben einer normannischen Nation. Denn France war nur eine Land,
schaft wie jene beiden andern, und jede derselben hatte ihre besondere Schrift¬
sprache, bis mit der Zeit das Französische die Oberhand gewann. Mit der
jetzt hearschenden Anwendung des Ausdrucks ng,riolla,1it6 steht in grellem
Widerspruch auch das sehr treffende Urtheil, welches die Akademie ebenda
als Beispiel anführt: ig. vatiomMtö ä'un xsuxle ohne survivre lovgtsiuvs
a, soll illa6völläa,liee. Wie hätte dies Sinn, wenn das Band der Nationa¬
lität nur das Staatsband wäre? Jener Satz selbst meint unter Nationalität
offenbar die Eigenthümlichkeit eines Volks, die allerdings gar manchen Wech¬
sel der Staatsformen und der Oberherren, die Sclaverei wie die Freiheit
zu überdauern vermag.

Daß eine Nation ihre Unabhängigkeit lange überleben kann, zeigt sich be¬
sonders schlagend an der occitanischen Nationalität. Wenn es auf-
falend ist, daß die Sprachgrenze zwischen Deutsch und Französisch sich durch die
lange französische Unterthänigkeit des Elsaß gar nicht verschoben hat, so ist
die Thatsache, daß, trotz der schon mehr als ein halbes Jahrtausend dauern¬
den Herrschaft der Franzosen über die Südhälfte ihres jetzigen Reichs, dieser
Süden seine eigene Sprache bis heute bewahrt hat, gewiß noch überraschen¬
der. Denn die nahe Verwandtschaft dieser occitanischen Sprache mit dem
Französischen setzte sie ungleich mehr als den so verschiedenartigen deutschen
Stamm der Absorption durch den Sieger aus. Es beweist die Zähigkeit
der occitanischen Nationalität, daß noch jetzt etwa zehn Millionen französischer
Staatsbürger ihr angehören. Die Grenze gegen das Französische läuft zwi¬
schen dem 45. und 46. Grad. Nördlich Dialekte der I^n^us ä'oui, unter
denen das Französische hervorragt, südlich Dialekte der 1-g.llgus et've oder
des Occitanischen. Letzteres hat auch im östlichen Spanien weite Länder¬
strecken im Besitz behalten, und mit diesen unter spanischer Herrschaft stehen¬
den Occitaniern sind die Südfrankreich bewohnenden auch durch eine gemein¬
same politische Vergangenheit voll schöner und voll schmerzlicher Erinnerungen
eng verbunden. '

Daß das Occitanische, oder, wie man es nach der einen Landschaft zu
nennen gewohnt ist, das Provenzalische eine besondere Sprache ist, die als
Schwester dem Französischen zur Seite steht, gleich den anderen Schwestern,
dem Spanischen, dem Portugiesischen, dem Italienischen, dem Rhätoromani-


der specifisch französische Gebrauch des Wortes Nation im Sinne von Staats¬
körper ist, geht nicht minder hervor aus der Bemerkung derselben Autorität,
daß man früher an der Universität Paris in der Facultät der H.rtes die
Angehörigen in vier Nationen classificirte: ctus as?rapee, cetis ac?iearäie,
esllö as Uormauäiö, et cetis ü'^llemaZue. Also außer der einheitlichen deut¬
schen Nation gab es eine französische Nation neben einer picardischen Nation
und neben einer normannischen Nation. Denn France war nur eine Land,
schaft wie jene beiden andern, und jede derselben hatte ihre besondere Schrift¬
sprache, bis mit der Zeit das Französische die Oberhand gewann. Mit der
jetzt hearschenden Anwendung des Ausdrucks ng,riolla,1it6 steht in grellem
Widerspruch auch das sehr treffende Urtheil, welches die Akademie ebenda
als Beispiel anführt: ig. vatiomMtö ä'un xsuxle ohne survivre lovgtsiuvs
a, soll illa6völläa,liee. Wie hätte dies Sinn, wenn das Band der Nationa¬
lität nur das Staatsband wäre? Jener Satz selbst meint unter Nationalität
offenbar die Eigenthümlichkeit eines Volks, die allerdings gar manchen Wech¬
sel der Staatsformen und der Oberherren, die Sclaverei wie die Freiheit
zu überdauern vermag.

Daß eine Nation ihre Unabhängigkeit lange überleben kann, zeigt sich be¬
sonders schlagend an der occitanischen Nationalität. Wenn es auf-
falend ist, daß die Sprachgrenze zwischen Deutsch und Französisch sich durch die
lange französische Unterthänigkeit des Elsaß gar nicht verschoben hat, so ist
die Thatsache, daß, trotz der schon mehr als ein halbes Jahrtausend dauern¬
den Herrschaft der Franzosen über die Südhälfte ihres jetzigen Reichs, dieser
Süden seine eigene Sprache bis heute bewahrt hat, gewiß noch überraschen¬
der. Denn die nahe Verwandtschaft dieser occitanischen Sprache mit dem
Französischen setzte sie ungleich mehr als den so verschiedenartigen deutschen
Stamm der Absorption durch den Sieger aus. Es beweist die Zähigkeit
der occitanischen Nationalität, daß noch jetzt etwa zehn Millionen französischer
Staatsbürger ihr angehören. Die Grenze gegen das Französische läuft zwi¬
schen dem 45. und 46. Grad. Nördlich Dialekte der I^n^us ä'oui, unter
denen das Französische hervorragt, südlich Dialekte der 1-g.llgus et've oder
des Occitanischen. Letzteres hat auch im östlichen Spanien weite Länder¬
strecken im Besitz behalten, und mit diesen unter spanischer Herrschaft stehen¬
den Occitaniern sind die Südfrankreich bewohnenden auch durch eine gemein¬
same politische Vergangenheit voll schöner und voll schmerzlicher Erinnerungen
eng verbunden. '

Daß das Occitanische, oder, wie man es nach der einen Landschaft zu
nennen gewohnt ist, das Provenzalische eine besondere Sprache ist, die als
Schwester dem Französischen zur Seite steht, gleich den anderen Schwestern,
dem Spanischen, dem Portugiesischen, dem Italienischen, dem Rhätoromani-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0422" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124572"/>
          <p xml:id="ID_1238" prev="#ID_1237"> der specifisch französische Gebrauch des Wortes Nation im Sinne von Staats¬<lb/>
körper ist, geht nicht minder hervor aus der Bemerkung derselben Autorität,<lb/>
daß man früher an der Universität Paris in der Facultät der H.rtes die<lb/>
Angehörigen in vier Nationen classificirte: ctus as?rapee, cetis ac?iearäie,<lb/>
esllö as Uormauäiö, et cetis ü'^llemaZue. Also außer der einheitlichen deut¬<lb/>
schen Nation gab es eine französische Nation neben einer picardischen Nation<lb/>
und neben einer normannischen Nation. Denn France war nur eine Land,<lb/>
schaft wie jene beiden andern, und jede derselben hatte ihre besondere Schrift¬<lb/>
sprache, bis mit der Zeit das Französische die Oberhand gewann. Mit der<lb/>
jetzt hearschenden Anwendung des Ausdrucks ng,riolla,1it6 steht in grellem<lb/>
Widerspruch auch das sehr treffende Urtheil, welches die Akademie ebenda<lb/>
als Beispiel anführt: ig. vatiomMtö ä'un xsuxle ohne survivre lovgtsiuvs<lb/>
a, soll illa6völläa,liee. Wie hätte dies Sinn, wenn das Band der Nationa¬<lb/>
lität nur das Staatsband wäre? Jener Satz selbst meint unter Nationalität<lb/>
offenbar die Eigenthümlichkeit eines Volks, die allerdings gar manchen Wech¬<lb/>
sel der Staatsformen und der Oberherren, die Sclaverei wie die Freiheit<lb/>
zu überdauern vermag.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1239"> Daß eine Nation ihre Unabhängigkeit lange überleben kann, zeigt sich be¬<lb/>
sonders schlagend an der occitanischen Nationalität. Wenn es auf-<lb/>
falend ist, daß die Sprachgrenze zwischen Deutsch und Französisch sich durch die<lb/>
lange französische Unterthänigkeit des Elsaß gar nicht verschoben hat, so ist<lb/>
die Thatsache, daß, trotz der schon mehr als ein halbes Jahrtausend dauern¬<lb/>
den Herrschaft der Franzosen über die Südhälfte ihres jetzigen Reichs, dieser<lb/>
Süden seine eigene Sprache bis heute bewahrt hat, gewiß noch überraschen¬<lb/>
der. Denn die nahe Verwandtschaft dieser occitanischen Sprache mit dem<lb/>
Französischen setzte sie ungleich mehr als den so verschiedenartigen deutschen<lb/>
Stamm der Absorption durch den Sieger aus. Es beweist die Zähigkeit<lb/>
der occitanischen Nationalität, daß noch jetzt etwa zehn Millionen französischer<lb/>
Staatsbürger ihr angehören. Die Grenze gegen das Französische läuft zwi¬<lb/>
schen dem 45. und 46. Grad. Nördlich Dialekte der I^n^us ä'oui, unter<lb/>
denen das Französische hervorragt, südlich Dialekte der 1-g.llgus et've oder<lb/>
des Occitanischen. Letzteres hat auch im östlichen Spanien weite Länder¬<lb/>
strecken im Besitz behalten, und mit diesen unter spanischer Herrschaft stehen¬<lb/>
den Occitaniern sind die Südfrankreich bewohnenden auch durch eine gemein¬<lb/>
same politische Vergangenheit voll schöner und voll schmerzlicher Erinnerungen<lb/>
eng verbunden. '</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1240" next="#ID_1241"> Daß das Occitanische, oder, wie man es nach der einen Landschaft zu<lb/>
nennen gewohnt ist, das Provenzalische eine besondere Sprache ist, die als<lb/>
Schwester dem Französischen zur Seite steht, gleich den anderen Schwestern,<lb/>
dem Spanischen, dem Portugiesischen, dem Italienischen, dem Rhätoromani-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0422] der specifisch französische Gebrauch des Wortes Nation im Sinne von Staats¬ körper ist, geht nicht minder hervor aus der Bemerkung derselben Autorität, daß man früher an der Universität Paris in der Facultät der H.rtes die Angehörigen in vier Nationen classificirte: ctus as?rapee, cetis ac?iearäie, esllö as Uormauäiö, et cetis ü'^llemaZue. Also außer der einheitlichen deut¬ schen Nation gab es eine französische Nation neben einer picardischen Nation und neben einer normannischen Nation. Denn France war nur eine Land, schaft wie jene beiden andern, und jede derselben hatte ihre besondere Schrift¬ sprache, bis mit der Zeit das Französische die Oberhand gewann. Mit der jetzt hearschenden Anwendung des Ausdrucks ng,riolla,1it6 steht in grellem Widerspruch auch das sehr treffende Urtheil, welches die Akademie ebenda als Beispiel anführt: ig. vatiomMtö ä'un xsuxle ohne survivre lovgtsiuvs a, soll illa6völläa,liee. Wie hätte dies Sinn, wenn das Band der Nationa¬ lität nur das Staatsband wäre? Jener Satz selbst meint unter Nationalität offenbar die Eigenthümlichkeit eines Volks, die allerdings gar manchen Wech¬ sel der Staatsformen und der Oberherren, die Sclaverei wie die Freiheit zu überdauern vermag. Daß eine Nation ihre Unabhängigkeit lange überleben kann, zeigt sich be¬ sonders schlagend an der occitanischen Nationalität. Wenn es auf- falend ist, daß die Sprachgrenze zwischen Deutsch und Französisch sich durch die lange französische Unterthänigkeit des Elsaß gar nicht verschoben hat, so ist die Thatsache, daß, trotz der schon mehr als ein halbes Jahrtausend dauern¬ den Herrschaft der Franzosen über die Südhälfte ihres jetzigen Reichs, dieser Süden seine eigene Sprache bis heute bewahrt hat, gewiß noch überraschen¬ der. Denn die nahe Verwandtschaft dieser occitanischen Sprache mit dem Französischen setzte sie ungleich mehr als den so verschiedenartigen deutschen Stamm der Absorption durch den Sieger aus. Es beweist die Zähigkeit der occitanischen Nationalität, daß noch jetzt etwa zehn Millionen französischer Staatsbürger ihr angehören. Die Grenze gegen das Französische läuft zwi¬ schen dem 45. und 46. Grad. Nördlich Dialekte der I^n^us ä'oui, unter denen das Französische hervorragt, südlich Dialekte der 1-g.llgus et've oder des Occitanischen. Letzteres hat auch im östlichen Spanien weite Länder¬ strecken im Besitz behalten, und mit diesen unter spanischer Herrschaft stehen¬ den Occitaniern sind die Südfrankreich bewohnenden auch durch eine gemein¬ same politische Vergangenheit voll schöner und voll schmerzlicher Erinnerungen eng verbunden. ' Daß das Occitanische, oder, wie man es nach der einen Landschaft zu nennen gewohnt ist, das Provenzalische eine besondere Sprache ist, die als Schwester dem Französischen zur Seite steht, gleich den anderen Schwestern, dem Spanischen, dem Portugiesischen, dem Italienischen, dem Rhätoromani-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/422
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/422>, abgerufen am 28.09.2024.