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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Die occitanische Nationalität.

Unter dem Gesichtspunkt der Nationalität ist der französische Staat so
völlig verschieden von Deutschland wie der östreichische. Denn Frankreich
befaßt wie Oestreich eine Mehrheit von Nationalitäten, die durch ein staat¬
liches Band zusammengehalten werden. Wie nicht jeder Oestreicher ein
Deutschöstreicher ist, so ist (wenn wir einmal so sagen dürfen) ein Frankreicher
darum noch kein Franzose. Diese Unterscheidung zwischen Staatsangehörig¬
keit und Nationalität liebt aber der französische Sprachgebrauch nicht in
Bezug auf Frankreich, sondern unter nation krav^iss wird die Gesammtheit
der dem Staatsganzen Zugehörigen verstanden, gleichviel welche Muttersprache
sie haben. Wir dagegen werden Individuen mit verschiedenen Mutter¬
sprachen nicht einer und derselben Nationalität zuschreiben. Ein Pole, der
preußischer Unterthan ist, gehört zum preußischen Volk, ohne darum deutscher
Nationalität zu sein. Preußen ist eben ein Staat, nicht eine Nation. Der
Franzose aber versteht mit seiner Akademie unter Nation: 1a totalite as8
persormss uvss on llaturg-Iisees as-us un xa,xs> et vivant Lvus im weine
Muverllöluelit.

Zu dieser Begriffsbestimmung paßt nun freilich eines der Beispiele für
den Gebrauch des Wortes, die das akademische Wörterbuch gibt, sehr übel,
nämlich: IIr xrwes yui eommanZö ü, äiverses nations. Also unter derselben
Regierung Unterthanen verschiedener Nationalität. Und auch darin zeigt
sich die Willkür jener Gleichsetzung von Nation und Staatsgenossenschast,
daß das Dictionnaire hinzufügen muß: "Zuweilen sagt man Nation von
den Bewohnern eines und desselben Landes, auch wenn sie nicht unter der¬
selben Regierung leben; daher man, obgleich Italien und Deutschland in
verschiedene Staaten und verschiedene Regierungen getheilt sind, doch nicht
unterläßt zu sagen: Die italienische Nation, die deutsche Nation." Auch
hier macht sich die Ansicht geltend, daß Deutschland und Italien nur geo¬
graphische Begriffe sind; die Spracheinheit jedes dieser Länder, die das charak¬
teristische Kriterium der Nationalität ist, bleibt unbeachtet. Wie modern


Grenzboten III. 1870. 64
Die occitanische Nationalität.

Unter dem Gesichtspunkt der Nationalität ist der französische Staat so
völlig verschieden von Deutschland wie der östreichische. Denn Frankreich
befaßt wie Oestreich eine Mehrheit von Nationalitäten, die durch ein staat¬
liches Band zusammengehalten werden. Wie nicht jeder Oestreicher ein
Deutschöstreicher ist, so ist (wenn wir einmal so sagen dürfen) ein Frankreicher
darum noch kein Franzose. Diese Unterscheidung zwischen Staatsangehörig¬
keit und Nationalität liebt aber der französische Sprachgebrauch nicht in
Bezug auf Frankreich, sondern unter nation krav^iss wird die Gesammtheit
der dem Staatsganzen Zugehörigen verstanden, gleichviel welche Muttersprache
sie haben. Wir dagegen werden Individuen mit verschiedenen Mutter¬
sprachen nicht einer und derselben Nationalität zuschreiben. Ein Pole, der
preußischer Unterthan ist, gehört zum preußischen Volk, ohne darum deutscher
Nationalität zu sein. Preußen ist eben ein Staat, nicht eine Nation. Der
Franzose aber versteht mit seiner Akademie unter Nation: 1a totalite as8
persormss uvss on llaturg-Iisees as-us un xa,xs> et vivant Lvus im weine
Muverllöluelit.

Zu dieser Begriffsbestimmung paßt nun freilich eines der Beispiele für
den Gebrauch des Wortes, die das akademische Wörterbuch gibt, sehr übel,
nämlich: IIr xrwes yui eommanZö ü, äiverses nations. Also unter derselben
Regierung Unterthanen verschiedener Nationalität. Und auch darin zeigt
sich die Willkür jener Gleichsetzung von Nation und Staatsgenossenschast,
daß das Dictionnaire hinzufügen muß: „Zuweilen sagt man Nation von
den Bewohnern eines und desselben Landes, auch wenn sie nicht unter der¬
selben Regierung leben; daher man, obgleich Italien und Deutschland in
verschiedene Staaten und verschiedene Regierungen getheilt sind, doch nicht
unterläßt zu sagen: Die italienische Nation, die deutsche Nation." Auch
hier macht sich die Ansicht geltend, daß Deutschland und Italien nur geo¬
graphische Begriffe sind; die Spracheinheit jedes dieser Länder, die das charak¬
teristische Kriterium der Nationalität ist, bleibt unbeachtet. Wie modern


Grenzboten III. 1870. 64
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[0421] Die occitanische Nationalität. Unter dem Gesichtspunkt der Nationalität ist der französische Staat so völlig verschieden von Deutschland wie der östreichische. Denn Frankreich befaßt wie Oestreich eine Mehrheit von Nationalitäten, die durch ein staat¬ liches Band zusammengehalten werden. Wie nicht jeder Oestreicher ein Deutschöstreicher ist, so ist (wenn wir einmal so sagen dürfen) ein Frankreicher darum noch kein Franzose. Diese Unterscheidung zwischen Staatsangehörig¬ keit und Nationalität liebt aber der französische Sprachgebrauch nicht in Bezug auf Frankreich, sondern unter nation krav^iss wird die Gesammtheit der dem Staatsganzen Zugehörigen verstanden, gleichviel welche Muttersprache sie haben. Wir dagegen werden Individuen mit verschiedenen Mutter¬ sprachen nicht einer und derselben Nationalität zuschreiben. Ein Pole, der preußischer Unterthan ist, gehört zum preußischen Volk, ohne darum deutscher Nationalität zu sein. Preußen ist eben ein Staat, nicht eine Nation. Der Franzose aber versteht mit seiner Akademie unter Nation: 1a totalite as8 persormss uvss on llaturg-Iisees as-us un xa,xs> et vivant Lvus im weine Muverllöluelit. Zu dieser Begriffsbestimmung paßt nun freilich eines der Beispiele für den Gebrauch des Wortes, die das akademische Wörterbuch gibt, sehr übel, nämlich: IIr xrwes yui eommanZö ü, äiverses nations. Also unter derselben Regierung Unterthanen verschiedener Nationalität. Und auch darin zeigt sich die Willkür jener Gleichsetzung von Nation und Staatsgenossenschast, daß das Dictionnaire hinzufügen muß: „Zuweilen sagt man Nation von den Bewohnern eines und desselben Landes, auch wenn sie nicht unter der¬ selben Regierung leben; daher man, obgleich Italien und Deutschland in verschiedene Staaten und verschiedene Regierungen getheilt sind, doch nicht unterläßt zu sagen: Die italienische Nation, die deutsche Nation." Auch hier macht sich die Ansicht geltend, daß Deutschland und Italien nur geo¬ graphische Begriffe sind; die Spracheinheit jedes dieser Länder, die das charak¬ teristische Kriterium der Nationalität ist, bleibt unbeachtet. Wie modern Grenzboten III. 1870. 64

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/421>, abgerufen am 29.06.2024.