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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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um zu befriedigenden Schlüsse zu gelangen. An sie zu erinnern, dürfte es
jetzt schon und zugleich jetzt noch an der Zeit sein.

Aber müssen denn Frankreich und Deutschland überhaupt an einander
grenzen? Liegt nicht eine Lösung des Räthsels nahe genug, welche die aller¬
kürzeste und richtigste zu sein scheint? Kann man nicht die Grenzen Frank¬
reichs verengern ohne die deutschen zu erweitern und so mit großmüthiger
Uneigennützigkeit allein das Banner des europäischen Friedens in den erober¬
ten Gebieten aufpflanzen? Ich muß gestehen, daß mir die Idee eines abge¬
trennten, selbständigen, neutralisirten lothringisch-elsäßischen Staates anfangs
viel zu schaffen gemacht hat; allein es ist eben eine Idee, vor realpolitischer
Betrachtung hält sie nicht Stand. Eines Erfolges freilich dürfte eine solche
Abkunft gewiß sein: des Beifalls der übrigen Mächte. England würde sie
positiv gefallen, ja recht eigentlich aus der Seele gesprochen sein; die anderen
aber würden sich ins Fäustchen lachen wegen ihrer negativen Seite, daß wir
nämlich nicht allein keinen Gewinn aus dem Kampfe davontrugen, sondern
umgekehrt einen Zuwachs an sorgenvoller Verlegenheit. Denn das allein
stellt sich bet nüchterner Betrachtung als Ergebniß heraus. Allerdings liegt
viel Verlockendes in dem Gedanken, die ganze Sprachgrenze der beiden
hadernden Nationen von der Höhe der Walliser Alpen bis zur Wendung
der Maas zwischen Lüttich und Mastricht und von da westwärts zum Pas
de Calais mit verschwindenden Ausnahmen auf neutrales Gebiet zu verlegen.
Es ließen sich vielleicht wirksame Anstalten treffen, daß in dem neuen Misch¬
staate zwischen dem Oberrhein und der Scheide der Maas gegen Marne
und Saone das alemannische und fränkische Deutsch keine so ungerechte Zu¬
rücksetzung gegenüber dem Französischen erführe, wie in Belgien bislang noch
das flämische Deutsch, daß vielmehr die gegenseitige Duldung und Anerken¬
nung von Germanen- und Romanenthum, wie sie in der Schweiz waltet,
zum Grundsatz erhoben würde. Wir blieben immer eine große und mächtige
Nation, auch ohne daß wir diese versprengten Brüder in unseren Staat
wieder hineinzogen; es könnte uns genügen, ihren Untergang abgewehrt,
sie vor der drohenden Verwischung bewahrt zu haben. Wir würden das
Münster zu Straßburg ohne Kummer schauen können, wie heut die Kathe¬
drale von Antwerpen, Meister Erwin würde uns als deutscher Genius drüben
begrüßen, wie der gewaltige Rubens an der Schelde. Und wie wir in den
Wassertauben noch immer deutsche Seetüchtigkeit sich tummeln sehen auf den
nämlichen Wahlstätten, da die Schiffersagen der Gudrune ihre Helden kämpfen
ließen, so brauchten wir auch nicht zu trauern in der Erwartung, in Sesen-
heim, das die reinste Naturpoesie deutscher Weiblichkeit für immer geweiht
hat, dereinst die unlauteren Chansons leichtfertiger Pariser Sänger von Mäd¬
chenlippen hören zu müssen.*


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um zu befriedigenden Schlüsse zu gelangen. An sie zu erinnern, dürfte es
jetzt schon und zugleich jetzt noch an der Zeit sein.

Aber müssen denn Frankreich und Deutschland überhaupt an einander
grenzen? Liegt nicht eine Lösung des Räthsels nahe genug, welche die aller¬
kürzeste und richtigste zu sein scheint? Kann man nicht die Grenzen Frank¬
reichs verengern ohne die deutschen zu erweitern und so mit großmüthiger
Uneigennützigkeit allein das Banner des europäischen Friedens in den erober¬
ten Gebieten aufpflanzen? Ich muß gestehen, daß mir die Idee eines abge¬
trennten, selbständigen, neutralisirten lothringisch-elsäßischen Staates anfangs
viel zu schaffen gemacht hat; allein es ist eben eine Idee, vor realpolitischer
Betrachtung hält sie nicht Stand. Eines Erfolges freilich dürfte eine solche
Abkunft gewiß sein: des Beifalls der übrigen Mächte. England würde sie
positiv gefallen, ja recht eigentlich aus der Seele gesprochen sein; die anderen
aber würden sich ins Fäustchen lachen wegen ihrer negativen Seite, daß wir
nämlich nicht allein keinen Gewinn aus dem Kampfe davontrugen, sondern
umgekehrt einen Zuwachs an sorgenvoller Verlegenheit. Denn das allein
stellt sich bet nüchterner Betrachtung als Ergebniß heraus. Allerdings liegt
viel Verlockendes in dem Gedanken, die ganze Sprachgrenze der beiden
hadernden Nationen von der Höhe der Walliser Alpen bis zur Wendung
der Maas zwischen Lüttich und Mastricht und von da westwärts zum Pas
de Calais mit verschwindenden Ausnahmen auf neutrales Gebiet zu verlegen.
Es ließen sich vielleicht wirksame Anstalten treffen, daß in dem neuen Misch¬
staate zwischen dem Oberrhein und der Scheide der Maas gegen Marne
und Saone das alemannische und fränkische Deutsch keine so ungerechte Zu¬
rücksetzung gegenüber dem Französischen erführe, wie in Belgien bislang noch
das flämische Deutsch, daß vielmehr die gegenseitige Duldung und Anerken¬
nung von Germanen- und Romanenthum, wie sie in der Schweiz waltet,
zum Grundsatz erhoben würde. Wir blieben immer eine große und mächtige
Nation, auch ohne daß wir diese versprengten Brüder in unseren Staat
wieder hineinzogen; es könnte uns genügen, ihren Untergang abgewehrt,
sie vor der drohenden Verwischung bewahrt zu haben. Wir würden das
Münster zu Straßburg ohne Kummer schauen können, wie heut die Kathe¬
drale von Antwerpen, Meister Erwin würde uns als deutscher Genius drüben
begrüßen, wie der gewaltige Rubens an der Schelde. Und wie wir in den
Wassertauben noch immer deutsche Seetüchtigkeit sich tummeln sehen auf den
nämlichen Wahlstätten, da die Schiffersagen der Gudrune ihre Helden kämpfen
ließen, so brauchten wir auch nicht zu trauern in der Erwartung, in Sesen-
heim, das die reinste Naturpoesie deutscher Weiblichkeit für immer geweiht
hat, dereinst die unlauteren Chansons leichtfertiger Pariser Sänger von Mäd¬
chenlippen hören zu müssen.*


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[0411] um zu befriedigenden Schlüsse zu gelangen. An sie zu erinnern, dürfte es jetzt schon und zugleich jetzt noch an der Zeit sein. Aber müssen denn Frankreich und Deutschland überhaupt an einander grenzen? Liegt nicht eine Lösung des Räthsels nahe genug, welche die aller¬ kürzeste und richtigste zu sein scheint? Kann man nicht die Grenzen Frank¬ reichs verengern ohne die deutschen zu erweitern und so mit großmüthiger Uneigennützigkeit allein das Banner des europäischen Friedens in den erober¬ ten Gebieten aufpflanzen? Ich muß gestehen, daß mir die Idee eines abge¬ trennten, selbständigen, neutralisirten lothringisch-elsäßischen Staates anfangs viel zu schaffen gemacht hat; allein es ist eben eine Idee, vor realpolitischer Betrachtung hält sie nicht Stand. Eines Erfolges freilich dürfte eine solche Abkunft gewiß sein: des Beifalls der übrigen Mächte. England würde sie positiv gefallen, ja recht eigentlich aus der Seele gesprochen sein; die anderen aber würden sich ins Fäustchen lachen wegen ihrer negativen Seite, daß wir nämlich nicht allein keinen Gewinn aus dem Kampfe davontrugen, sondern umgekehrt einen Zuwachs an sorgenvoller Verlegenheit. Denn das allein stellt sich bet nüchterner Betrachtung als Ergebniß heraus. Allerdings liegt viel Verlockendes in dem Gedanken, die ganze Sprachgrenze der beiden hadernden Nationen von der Höhe der Walliser Alpen bis zur Wendung der Maas zwischen Lüttich und Mastricht und von da westwärts zum Pas de Calais mit verschwindenden Ausnahmen auf neutrales Gebiet zu verlegen. Es ließen sich vielleicht wirksame Anstalten treffen, daß in dem neuen Misch¬ staate zwischen dem Oberrhein und der Scheide der Maas gegen Marne und Saone das alemannische und fränkische Deutsch keine so ungerechte Zu¬ rücksetzung gegenüber dem Französischen erführe, wie in Belgien bislang noch das flämische Deutsch, daß vielmehr die gegenseitige Duldung und Anerken¬ nung von Germanen- und Romanenthum, wie sie in der Schweiz waltet, zum Grundsatz erhoben würde. Wir blieben immer eine große und mächtige Nation, auch ohne daß wir diese versprengten Brüder in unseren Staat wieder hineinzogen; es könnte uns genügen, ihren Untergang abgewehrt, sie vor der drohenden Verwischung bewahrt zu haben. Wir würden das Münster zu Straßburg ohne Kummer schauen können, wie heut die Kathe¬ drale von Antwerpen, Meister Erwin würde uns als deutscher Genius drüben begrüßen, wie der gewaltige Rubens an der Schelde. Und wie wir in den Wassertauben noch immer deutsche Seetüchtigkeit sich tummeln sehen auf den nämlichen Wahlstätten, da die Schiffersagen der Gudrune ihre Helden kämpfen ließen, so brauchten wir auch nicht zu trauern in der Erwartung, in Sesen- heim, das die reinste Naturpoesie deutscher Weiblichkeit für immer geweiht hat, dereinst die unlauteren Chansons leichtfertiger Pariser Sänger von Mäd¬ chenlippen hören zu müssen.* 52

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/411>, abgerufen am 29.06.2024.