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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Fürwahr! "wenn man's so hört, möcht's leidlich scheinen, steht aber doch
immer schief darum", denn die einfachste politische Erwägung lehrt, daß der
ganze Plan von uns sehr edelmüthig, aber auch ungemein thöricht erdacht
wäre. Wieviel Achtung Frankreich vor europäisch garantirter Unantastbar¬
keit kleinerer Nachbarn hegt, das hat. wenn es noch nicht seit Jahren aus
der französischen Presse bekannt wäre, die Güte des Grafen Benedetti seit¬
dem schwarz auf weiß auf kaiserlichem Papier eigenhändig bescheinigt. Ein
jüngst verlorenes Gebiet wiederzuerlangen würde man selbstverändlich drüben
Tag und Nacht offen und insgeheim alle Mittel wühlender List und
drängender Gewalt in Bewegung setzen. Dem gegenüber stünde nun die
europäische Collectivgarantie; auch über sie jedoch darf man sich nachgerade
keiner Täuschung mehr hingeben. England schützt Belgien und würde darum
zu den Waffen greisen, offenbar aber nur weil Antwerpen als französisches
Emporium für die eigenen englischen Interessen geradezu unerträglich sein
würde; wie es, wenn englisches Interesse nicht im Spiel ist, eine Garantie
der Neutralität seinerseits auffaßt, hat Lord Stanley bei dem Luxemburger
Handel mit dürren Worten erklärt. England würde sicher keinen Finger
rühren, um die Wiederherstellung eines Zustandes zu hintertreiben, den es
bis jetzt höchst angemessen gefunden, ja 1813 selbst hat gründen helfen. Und
die anderen Mächte? Wer von ihnen hat 1860 das neutrale Chablais und
Faucigny vor der Einverleibung in den französischen Kriegsstaat geschützt?
Oestreich und Rußland würden die Gelegenheit benutzen, um diese oder jene
Forderung zu Tage zu fördern, daß sie aber die Unabhängigkeit des ent¬
legenen Elsaß-Lothringen um der Sache willen vertheidigen sollten, das von
ihnen zu erwarten, würden sie selbst für erstaunlich naiv halten. Daß
nun die neue Schöpfung sich mit eigenen Kräften behaupten könnte, wird
Niemand glauben. Machte man aus den beiden Provinzen einen eigenen
Staat, so würde sogar schon über dem mühsamen und langwierigen Geschäfte
des Fürstensuchens frischer Hader sich entzünden können. Vertheilte man das
Gebiet an Schweiz und Belgien, so zöge man nur diese dadurch gleich¬
falls in die unmittelbare Gefahr eines Krieges hinein. Addirte man selbst
das ganze Elsaß-Lothringen sammt Luxemburg zu Belgien, so würde ein
solcher Ländercomplex, der als burgundisches Reich Karl's des Kühnen eine
Großmacht gewesen wäre, heutzutage für sich nichts bedeuten. Es klingt zwar
paradox, ist aber wahr, daß mit der Vergrößerung neutralisirter Staaten
ihre Unsicherheit wächst.

Man sieht: nicht der europäische Friede, sondern der europäische Krieg
wäre verewigt, und wer vor allen hätte ihn zu führen? Kein anderer als
Deutschland. Nicht einen einzigen Soldaten weniger dürfen wir halten, so
lange diese Mißgeburt unserer Großmuth existirte. Wir hätten ein erweiter-


Fürwahr! „wenn man's so hört, möcht's leidlich scheinen, steht aber doch
immer schief darum", denn die einfachste politische Erwägung lehrt, daß der
ganze Plan von uns sehr edelmüthig, aber auch ungemein thöricht erdacht
wäre. Wieviel Achtung Frankreich vor europäisch garantirter Unantastbar¬
keit kleinerer Nachbarn hegt, das hat. wenn es noch nicht seit Jahren aus
der französischen Presse bekannt wäre, die Güte des Grafen Benedetti seit¬
dem schwarz auf weiß auf kaiserlichem Papier eigenhändig bescheinigt. Ein
jüngst verlorenes Gebiet wiederzuerlangen würde man selbstverändlich drüben
Tag und Nacht offen und insgeheim alle Mittel wühlender List und
drängender Gewalt in Bewegung setzen. Dem gegenüber stünde nun die
europäische Collectivgarantie; auch über sie jedoch darf man sich nachgerade
keiner Täuschung mehr hingeben. England schützt Belgien und würde darum
zu den Waffen greisen, offenbar aber nur weil Antwerpen als französisches
Emporium für die eigenen englischen Interessen geradezu unerträglich sein
würde; wie es, wenn englisches Interesse nicht im Spiel ist, eine Garantie
der Neutralität seinerseits auffaßt, hat Lord Stanley bei dem Luxemburger
Handel mit dürren Worten erklärt. England würde sicher keinen Finger
rühren, um die Wiederherstellung eines Zustandes zu hintertreiben, den es
bis jetzt höchst angemessen gefunden, ja 1813 selbst hat gründen helfen. Und
die anderen Mächte? Wer von ihnen hat 1860 das neutrale Chablais und
Faucigny vor der Einverleibung in den französischen Kriegsstaat geschützt?
Oestreich und Rußland würden die Gelegenheit benutzen, um diese oder jene
Forderung zu Tage zu fördern, daß sie aber die Unabhängigkeit des ent¬
legenen Elsaß-Lothringen um der Sache willen vertheidigen sollten, das von
ihnen zu erwarten, würden sie selbst für erstaunlich naiv halten. Daß
nun die neue Schöpfung sich mit eigenen Kräften behaupten könnte, wird
Niemand glauben. Machte man aus den beiden Provinzen einen eigenen
Staat, so würde sogar schon über dem mühsamen und langwierigen Geschäfte
des Fürstensuchens frischer Hader sich entzünden können. Vertheilte man das
Gebiet an Schweiz und Belgien, so zöge man nur diese dadurch gleich¬
falls in die unmittelbare Gefahr eines Krieges hinein. Addirte man selbst
das ganze Elsaß-Lothringen sammt Luxemburg zu Belgien, so würde ein
solcher Ländercomplex, der als burgundisches Reich Karl's des Kühnen eine
Großmacht gewesen wäre, heutzutage für sich nichts bedeuten. Es klingt zwar
paradox, ist aber wahr, daß mit der Vergrößerung neutralisirter Staaten
ihre Unsicherheit wächst.

Man sieht: nicht der europäische Friede, sondern der europäische Krieg
wäre verewigt, und wer vor allen hätte ihn zu führen? Kein anderer als
Deutschland. Nicht einen einzigen Soldaten weniger dürfen wir halten, so
lange diese Mißgeburt unserer Großmuth existirte. Wir hätten ein erweiter-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/412>, abgerufen am 29.06.2024.