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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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hat sich bei einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Forschungen, am meisten bei
den historisch-kritischen, ungemein fruchtbar erwiesen. Gleich wichtig wie die
Schärfe ist die Beweglichkeit des Blicks. Es scheint uns keine Gefahr zu
haben, daß der deutschen Wissenschaft jemals die Gewissenhaftigkeit der Wahr¬
heit abhanden kommen könne. Auf ihr zumeist beruht die Reaction, die sich
gegen die allbereite Dialektik der speculativen Philosophie erhoben hat. Er¬
kennen wir dankbar an, daß es das Verdienst dieser Dialektik gewesen ist,
zahlreiche Vorurtheile in Fluß gebracht, die ganze Masse der Probleme, die
durch die Geschichte der Philosophie sich hindurchziehen, in neuer Gruppirung,
in aufklärender Wechselbeleuchtung an unserem Blick vorübergeführt zu haben.
Es sei das Aeußerste zugestanden, daß der ganze Kern dieser Lehre nichts
als ein Dunstkern, leere Gedankenklitterung und Sophistik sei: auch so müßte
es für eine Leistung der bewundrungswürdigsten Art und für einen unschätz¬
baren Gewinn gehalten werden, daß hier zum ersten Mal der Irrthum
notificirt und die Sophistik systematisirt worden wäre. Die Geschichte wird
ein gerechteres und minder paradoxes Urtheil fallen. Sie wird, wenn aber¬
mals eine Generation und abermals ein Jahrhundert vorüber ist, in unge¬
schmälerten Ehren des Mannes gedenken, der die Gedcmkenfluthen der ganzen
Vergangenheit in Ein mächtiges Bett leitete und den Ertrag der Anschauungen
und Gedanken unserer rein geistigen, classisch'en Cultur zur Errichtung eines
riesigen Monumentes verwerthete, welches ihm die Welt, uns aber die Grenz¬
scheide zweier Epochen bedeutet.


R. Haym.


Provost^Paradol.

Am 8. August, inmitten des Schreckens, welchen die ersten Siege der
deutschen Armee in Paris verbreiteten, wurden unter dem Geleit der Mehr¬
zahl der französischen Akademiegenossen die sterblichen Neste eines Mannes
bestattet, dessen jähes Ende einen charakteristischen Jncidenzpunkt in der
französischen Tragödie bildet, die vor unseren Augen spielt.

Pre'post-Paradol, der Sohn eines Offiziers in Halbsold und einer
Schauspielerin, bot das seltene Schauspiel eines Talentes, das sich ohne alle
Protection rasch den Weg zu den höchsten Ehren in der Republik der Lite¬
ratur gebahnt hatte und im Begriff schien, eine politische Rolle zu spielen.

Bereits im Collöge Bourbon hatte er sich so ausgezeichnet, daß gleich
nach seiner Promotion ihm eine Professur in Aix angeboten ward, sehr bald
aber ging er nach Paris zurück, um einer der bedeutendsten Mitarbeiter des


SO*

hat sich bei einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Forschungen, am meisten bei
den historisch-kritischen, ungemein fruchtbar erwiesen. Gleich wichtig wie die
Schärfe ist die Beweglichkeit des Blicks. Es scheint uns keine Gefahr zu
haben, daß der deutschen Wissenschaft jemals die Gewissenhaftigkeit der Wahr¬
heit abhanden kommen könne. Auf ihr zumeist beruht die Reaction, die sich
gegen die allbereite Dialektik der speculativen Philosophie erhoben hat. Er¬
kennen wir dankbar an, daß es das Verdienst dieser Dialektik gewesen ist,
zahlreiche Vorurtheile in Fluß gebracht, die ganze Masse der Probleme, die
durch die Geschichte der Philosophie sich hindurchziehen, in neuer Gruppirung,
in aufklärender Wechselbeleuchtung an unserem Blick vorübergeführt zu haben.
Es sei das Aeußerste zugestanden, daß der ganze Kern dieser Lehre nichts
als ein Dunstkern, leere Gedankenklitterung und Sophistik sei: auch so müßte
es für eine Leistung der bewundrungswürdigsten Art und für einen unschätz¬
baren Gewinn gehalten werden, daß hier zum ersten Mal der Irrthum
notificirt und die Sophistik systematisirt worden wäre. Die Geschichte wird
ein gerechteres und minder paradoxes Urtheil fallen. Sie wird, wenn aber¬
mals eine Generation und abermals ein Jahrhundert vorüber ist, in unge¬
schmälerten Ehren des Mannes gedenken, der die Gedcmkenfluthen der ganzen
Vergangenheit in Ein mächtiges Bett leitete und den Ertrag der Anschauungen
und Gedanken unserer rein geistigen, classisch'en Cultur zur Errichtung eines
riesigen Monumentes verwerthete, welches ihm die Welt, uns aber die Grenz¬
scheide zweier Epochen bedeutet.


R. Haym.


Provost^Paradol.

Am 8. August, inmitten des Schreckens, welchen die ersten Siege der
deutschen Armee in Paris verbreiteten, wurden unter dem Geleit der Mehr¬
zahl der französischen Akademiegenossen die sterblichen Neste eines Mannes
bestattet, dessen jähes Ende einen charakteristischen Jncidenzpunkt in der
französischen Tragödie bildet, die vor unseren Augen spielt.

Pre'post-Paradol, der Sohn eines Offiziers in Halbsold und einer
Schauspielerin, bot das seltene Schauspiel eines Talentes, das sich ohne alle
Protection rasch den Weg zu den höchsten Ehren in der Republik der Lite¬
ratur gebahnt hatte und im Begriff schien, eine politische Rolle zu spielen.

Bereits im Collöge Bourbon hatte er sich so ausgezeichnet, daß gleich
nach seiner Promotion ihm eine Professur in Aix angeboten ward, sehr bald
aber ging er nach Paris zurück, um einer der bedeutendsten Mitarbeiter des


SO*
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/395>, abgerufen am 26.06.2024.