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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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durch eine mehr als logische Vermittlung immer neu und immer anders er¬
zeugt. Wir haben im Zusammenhange damit auch anders über das Ver¬
hältniß des Vernünftigen zum Zweckmäßiger denken gelernt. Nicht die for¬
melle und allgemeine Verwirklichung des Weltzwecks spannt unser Interesse
und reißt uns zur Begeistrung hin, sondern hinter dieser formellen Bewe¬
gung sind uns das Wichtigste die Werthe, die wir in allem Sein und Ge¬
schehen ahnen und, vermittelt durch das ästhetische und das religiöse Gefühl,
aufgeklärt durch das beziehende Denken, zuletzt doch immer an der Stimme
des Gewissens messen. Mit alle dem endlich erscheint uns das Verhältniß
des Wirklichen und Vernünftigen nicht mehr als eine einfache Gleichung,
sondern bei der genetischen Erklärung der Dinge suchen wir, unbefriedigt
durch den auf der Oberfläche spielenden Schein vernünftiger Entwicklung,
nach den wahrhaft wirkenden Kräften und der reellen Verkettung der Ur¬
sachen; in unserem praktischen Verhalten desgleichen werfen wir nicht vor¬
eilig in der umgebenden Wirklichkeit, den bestehenden Zuständen, dem Ge-
wordnen als solchem Anker, sondern halten uns an das Recht des lebendi¬
gen Geistes, das Vernünftige noch vernünftiger zu machen und das Ent¬
wickelte noch weiter zu entwickeln.

Aber wir stehen dennoch mit alle dem mehr als wir es wissen auf den
Schultern des großen Systematikers. Vergebens ist es doch nicht gewesen,
daß derselbe einmal die Fluthen lebendiger, empfindungsvoller Anschauung
ganz aus ihrem eigenen Bett herausgetrieben und in die dürren Gefilde des
syllogistischen Denkens hinübergeleitet hat. Die Überschwemmung ist zurück¬
getreten, aber nicht ohne befruchtenden Schlamm hinter sich zu lassen. Das
in seiner Absperrung von den schöpferischen Kräften des Geistes starr und
arm gewordene reflectirende Erkennen hat dadurch eine bisher ungekannte
Gelenkigkeit und Behendigkeit erlangt. Die dem abstract rechnenden Denker
sich heimlich einmischende Anschauung, die stillschweigend den reinen Ge¬
dankenbeziehungen sich unterschiebende Erinnerung an geschichtliche Entwicke¬
lungen hat der wissenschaftlichen Arbeit abkürzende Kunstgriffe an die Hand ge¬
geben, die darum nicht weniger zu richtigen Resultaten führen, weil sie Zwischen¬
glieder überspringen und vorgreifend fremdartige Werthe einschieben. Es ist
ein Aberglaube, daß sich diese Verfahrungswetse durch eine absolute Methode
regularisiren lasse, aber es ist ein nicht geringerer Aberglaube, daß auch die eorrec-
teste Schlußkette etwas anderes leisten könne, als die Beziehungen zu vervollstän¬
digen, die Standpunkte zu vermehren, von denen aus wir durch die eintretende
Hilfe des ganzen Geistes uns fortschreitend über die Bedeutung der Dinge und
über den Sinn des Lebens verständigen mögen. Die raschere Uebersicht, die wenn
auch tumultuarische Verschlingung der verschiedensten Gesichtspunkte, welche
durch die Anwendung der Hegel'schen Methode ermöglicht und gefordert wurde,


durch eine mehr als logische Vermittlung immer neu und immer anders er¬
zeugt. Wir haben im Zusammenhange damit auch anders über das Ver¬
hältniß des Vernünftigen zum Zweckmäßiger denken gelernt. Nicht die for¬
melle und allgemeine Verwirklichung des Weltzwecks spannt unser Interesse
und reißt uns zur Begeistrung hin, sondern hinter dieser formellen Bewe¬
gung sind uns das Wichtigste die Werthe, die wir in allem Sein und Ge¬
schehen ahnen und, vermittelt durch das ästhetische und das religiöse Gefühl,
aufgeklärt durch das beziehende Denken, zuletzt doch immer an der Stimme
des Gewissens messen. Mit alle dem endlich erscheint uns das Verhältniß
des Wirklichen und Vernünftigen nicht mehr als eine einfache Gleichung,
sondern bei der genetischen Erklärung der Dinge suchen wir, unbefriedigt
durch den auf der Oberfläche spielenden Schein vernünftiger Entwicklung,
nach den wahrhaft wirkenden Kräften und der reellen Verkettung der Ur¬
sachen; in unserem praktischen Verhalten desgleichen werfen wir nicht vor¬
eilig in der umgebenden Wirklichkeit, den bestehenden Zuständen, dem Ge-
wordnen als solchem Anker, sondern halten uns an das Recht des lebendi¬
gen Geistes, das Vernünftige noch vernünftiger zu machen und das Ent¬
wickelte noch weiter zu entwickeln.

Aber wir stehen dennoch mit alle dem mehr als wir es wissen auf den
Schultern des großen Systematikers. Vergebens ist es doch nicht gewesen,
daß derselbe einmal die Fluthen lebendiger, empfindungsvoller Anschauung
ganz aus ihrem eigenen Bett herausgetrieben und in die dürren Gefilde des
syllogistischen Denkens hinübergeleitet hat. Die Überschwemmung ist zurück¬
getreten, aber nicht ohne befruchtenden Schlamm hinter sich zu lassen. Das
in seiner Absperrung von den schöpferischen Kräften des Geistes starr und
arm gewordene reflectirende Erkennen hat dadurch eine bisher ungekannte
Gelenkigkeit und Behendigkeit erlangt. Die dem abstract rechnenden Denker
sich heimlich einmischende Anschauung, die stillschweigend den reinen Ge¬
dankenbeziehungen sich unterschiebende Erinnerung an geschichtliche Entwicke¬
lungen hat der wissenschaftlichen Arbeit abkürzende Kunstgriffe an die Hand ge¬
geben, die darum nicht weniger zu richtigen Resultaten führen, weil sie Zwischen¬
glieder überspringen und vorgreifend fremdartige Werthe einschieben. Es ist
ein Aberglaube, daß sich diese Verfahrungswetse durch eine absolute Methode
regularisiren lasse, aber es ist ein nicht geringerer Aberglaube, daß auch die eorrec-
teste Schlußkette etwas anderes leisten könne, als die Beziehungen zu vervollstän¬
digen, die Standpunkte zu vermehren, von denen aus wir durch die eintretende
Hilfe des ganzen Geistes uns fortschreitend über die Bedeutung der Dinge und
über den Sinn des Lebens verständigen mögen. Die raschere Uebersicht, die wenn
auch tumultuarische Verschlingung der verschiedensten Gesichtspunkte, welche
durch die Anwendung der Hegel'schen Methode ermöglicht und gefordert wurde,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/394>, abgerufen am 26.06.2024.