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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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der Wahrheit, zusammenhalten. Das einmal wachgerufene Gewissen der
Wahrheit will sich nicht wieder beschwichtigen lassen. Wir sagen nicht zu
viel, wenn wir aussprechen: es geht nicht ehrlich zu in diesem Systeme.
Man mißverstehe das starke Wort nicht. Wir fügen ebenso unbedenklich
hinzu: der Schöpfer dieses Systems war dennoch nichts weniger als ein
Sophist. Denn nicht um irgend eines äußeren Zwecks willen, sondern aus
dem vollen Glauben an die Macht des Geistes und um diese Macht über
allen Zweifel zu erheben, nahm der scharfsinnige auch stumpfe Beweise in
seinen Dienst, gewöhnte sich der Nüchterne an eine Anzahl durchaus phan¬
tastischer Voraussetzungen.

Einen Theil dieser Mängel hat die Hegel'sche Philosophie mit dem
ganzen Ideenkreise gemein, dessen reifste Frucht sie war, ein anderer gehört
ihr eigenthümlich und hängt mit den entscheidenden Gedanken zusammen,
durch die es ihr eben gelang, über die Anläufe so vieler Vorgänger hinaus¬
zukommen. Es ist nicht falsch, wenn man, fußend auf Hegel's eignen Aus¬
einandersetzungen, gesagt hat, ihr Eigenthümlichstes und ihr wissenschaftliches
Voraushaben bestehe in dem Besitz einer Methode. Es ist richtiger, wenn
man diesen Vorzug näher darein setzt, daß die Methode mit dem System
aus Einem Stück, das System nichts andres als die sich darlegende und
erschöpfende Methode sei. Am richtigsten wird man diese Eigenthümlichkeit
und zugleich den Grund derselben bezeichnen, wenn man den specifisch logi¬
schen und specifisch teleolo gischen Charakter des Systems in's Auge faßt.
Die Verbindung der lebendigen ästhetischen Anschauung mit dem kritisch
reflecrirenden Verhalten war der gemeinschaftliche Familienzug der ganzen
Gruppe von Denkern, aus deren Mitte Hegel hervorging. Ihnen allen ge¬
meinsam war die leitende Idee, daß die Seele der Natur und der Geschichte
sich in dem menschlichen Bewußtsein spiegle, daß das Weltreich aus der in-
tellectuellen Anschauung des Ich verstanden, daß die Productionen der Natur
und die Epochen der Geschichte genetisch aus den Prozessen, nach der Ana¬
logie der eignen geistigen Thätigkeit gedeutet werden müßten. Gemeinsam
eben deshalb war ihnen allen der historische Zug, die Neigung. Theorie und
Geschichte mit einander zu verschmelzen, die eine an der andern zu illustriren
und die Standpunkte der Vergangenheit als vorbereitende Glieder, als Ent¬
wicklungsstufen der gegenwärtig geltenden Wahrheit zu betrachten. Alle
diese Voraussetzungen finden sich in dem Hegel'schen System wieder, sie
machen das Gewebe desselben so ungemein bunt und schillernd und erzeugen
den Eindruck einer Verwirrung, die man erst klar erkannt haben muß,' ehe
man die relative Berechtigung der Verbindung zugestehen kann. Aber zwei
Gedanken sind erst von Hegel -- wir wollen nicht sagen neu hinzugebracht,
aber doch von ihm zuerst so stark angespannt worden, daß dadurch Alles ein


der Wahrheit, zusammenhalten. Das einmal wachgerufene Gewissen der
Wahrheit will sich nicht wieder beschwichtigen lassen. Wir sagen nicht zu
viel, wenn wir aussprechen: es geht nicht ehrlich zu in diesem Systeme.
Man mißverstehe das starke Wort nicht. Wir fügen ebenso unbedenklich
hinzu: der Schöpfer dieses Systems war dennoch nichts weniger als ein
Sophist. Denn nicht um irgend eines äußeren Zwecks willen, sondern aus
dem vollen Glauben an die Macht des Geistes und um diese Macht über
allen Zweifel zu erheben, nahm der scharfsinnige auch stumpfe Beweise in
seinen Dienst, gewöhnte sich der Nüchterne an eine Anzahl durchaus phan¬
tastischer Voraussetzungen.

Einen Theil dieser Mängel hat die Hegel'sche Philosophie mit dem
ganzen Ideenkreise gemein, dessen reifste Frucht sie war, ein anderer gehört
ihr eigenthümlich und hängt mit den entscheidenden Gedanken zusammen,
durch die es ihr eben gelang, über die Anläufe so vieler Vorgänger hinaus¬
zukommen. Es ist nicht falsch, wenn man, fußend auf Hegel's eignen Aus¬
einandersetzungen, gesagt hat, ihr Eigenthümlichstes und ihr wissenschaftliches
Voraushaben bestehe in dem Besitz einer Methode. Es ist richtiger, wenn
man diesen Vorzug näher darein setzt, daß die Methode mit dem System
aus Einem Stück, das System nichts andres als die sich darlegende und
erschöpfende Methode sei. Am richtigsten wird man diese Eigenthümlichkeit
und zugleich den Grund derselben bezeichnen, wenn man den specifisch logi¬
schen und specifisch teleolo gischen Charakter des Systems in's Auge faßt.
Die Verbindung der lebendigen ästhetischen Anschauung mit dem kritisch
reflecrirenden Verhalten war der gemeinschaftliche Familienzug der ganzen
Gruppe von Denkern, aus deren Mitte Hegel hervorging. Ihnen allen ge¬
meinsam war die leitende Idee, daß die Seele der Natur und der Geschichte
sich in dem menschlichen Bewußtsein spiegle, daß das Weltreich aus der in-
tellectuellen Anschauung des Ich verstanden, daß die Productionen der Natur
und die Epochen der Geschichte genetisch aus den Prozessen, nach der Ana¬
logie der eignen geistigen Thätigkeit gedeutet werden müßten. Gemeinsam
eben deshalb war ihnen allen der historische Zug, die Neigung. Theorie und
Geschichte mit einander zu verschmelzen, die eine an der andern zu illustriren
und die Standpunkte der Vergangenheit als vorbereitende Glieder, als Ent¬
wicklungsstufen der gegenwärtig geltenden Wahrheit zu betrachten. Alle
diese Voraussetzungen finden sich in dem Hegel'schen System wieder, sie
machen das Gewebe desselben so ungemein bunt und schillernd und erzeugen
den Eindruck einer Verwirrung, die man erst klar erkannt haben muß,' ehe
man die relative Berechtigung der Verbindung zugestehen kann. Aber zwei
Gedanken sind erst von Hegel — wir wollen nicht sagen neu hinzugebracht,
aber doch von ihm zuerst so stark angespannt worden, daß dadurch Alles ein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/392>, abgerufen am 26.06.2024.