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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Man mag über die Tragbarkeit der Fundamente dieses Gedankengebäudes
und über die Festigkeit seiner Verzahnungen denken wie man will: vor der
methodischen Geduld und der zähen Kraft, mit der es errichtet und
bis in den entlegensten Winkel immer vollständiger ausgebaut wurde, wird
man nicht umhin können Respect zu haben. Man wird endlich diese nach¬
haltige und ausgiebige Gedankenkraft nicht bewundern dürfen ohne zugleich
die Stärke des Willens und den gediegenen Charakter zu bewun¬
dern, der zwar nicht ohne Nachgiebigkeit gegen Menschen und Verhältnisse,
aber unbeugsam in dem geistigen Kampf mit den Mächten der Wirklichkeit,
in der Bewältigung der sprödesten Massen, in der Besiegung der scheinbar
unüberwindlichsten Schwierigkeiten war. Glänzende Beispiele eines nicht zu
ermüdenden Scharfsinns, eines immer Stand haltenden Tiefsinns haben auch
andre Denker gegeben, aber in der gleichmäßigen Standhaftigkeit der massen¬
bewältigenden organisatorischen Arbeit hat Hegel sie alle übertroffen. Der
kraftvollste aller philosophischen Systematiker. ist er nur mit jenen Gesetzgebern
und Staatsmännern zu vergleichen, welche Reiche und Verfassungen gegründet
oder einen großen politischen Gedanken in immer wechselnder Stellung den¬
noch mit sicherem Blick und fester Hand zur Verwirklichung gebracht haben.

In Wahrheit, er gleicht diesen praktischen Naturen, diesen Meistern in
der Kunst, mit Menschen und Dingen zu schalten, mehr als mit dem letzten
Zweck und dem Wesen der Wissenschaft verträglich ist. Der Systematiker
überwiegt in ihm den Philosophen. Ein intellectuelles organisa¬
torisches Genie, ist er mehr darauf bedacht gewesen, ein Reich des Gedankens
zu stiften, als der unendlichen Entwicklung der Wahrheit freie Bahn zu
schaffen. Indem er Alles daran setzte, die Herrschaft des Begriffs zur all¬
seitigen und unbedingten Anerkennung zu bringen, hat er nur zu oft Macht
vor Recht gehen lassen. Die Probe der Wahrheit erblickt er zuletzt in dem
Gelingen des Systems; mit einem geistvollen aber verhängnißvollen Ausdruck
preist er neben der Kraft die List der Vernunft; in dem Streben nach Katho-
licität sehen wir ihn überall Zugeständnisse machen, und dieses ganze kunst¬
reiche System ist zuletzt nichts als eine lange Kette von Compromissen zwi¬
schen Gedanken und Gedanken einerseits, zwischen Begriff und Wirklichkeit
andrerseits. Das ist es, was uns bei aller Bewunderung der pragmatischen
Weisheit, die dieses System geschaffen hat, je länger je mehr mit Mißtrauen
gegen den aufgewandten Scharfsinn sowohl wie gegen den unläugboren
Tiefsinn desselben -- ja zuletzt mit Abneigung und Widerwillen erfüllt. Am
stärksten bemächtigen sich diese Empfindungen unseres Geistes, wenn wir, aus
dem Zauberkreis dieser Geschichte des Absoluten heraustretend, damit die
peinlich gewissenhafte Fragstellung Kant's oder die heldenmäßigen^ Anstren¬
gungen Lesstng's, auch nur einen Fußbreit weiter vorzudringen in dem Lande


Man mag über die Tragbarkeit der Fundamente dieses Gedankengebäudes
und über die Festigkeit seiner Verzahnungen denken wie man will: vor der
methodischen Geduld und der zähen Kraft, mit der es errichtet und
bis in den entlegensten Winkel immer vollständiger ausgebaut wurde, wird
man nicht umhin können Respect zu haben. Man wird endlich diese nach¬
haltige und ausgiebige Gedankenkraft nicht bewundern dürfen ohne zugleich
die Stärke des Willens und den gediegenen Charakter zu bewun¬
dern, der zwar nicht ohne Nachgiebigkeit gegen Menschen und Verhältnisse,
aber unbeugsam in dem geistigen Kampf mit den Mächten der Wirklichkeit,
in der Bewältigung der sprödesten Massen, in der Besiegung der scheinbar
unüberwindlichsten Schwierigkeiten war. Glänzende Beispiele eines nicht zu
ermüdenden Scharfsinns, eines immer Stand haltenden Tiefsinns haben auch
andre Denker gegeben, aber in der gleichmäßigen Standhaftigkeit der massen¬
bewältigenden organisatorischen Arbeit hat Hegel sie alle übertroffen. Der
kraftvollste aller philosophischen Systematiker. ist er nur mit jenen Gesetzgebern
und Staatsmännern zu vergleichen, welche Reiche und Verfassungen gegründet
oder einen großen politischen Gedanken in immer wechselnder Stellung den¬
noch mit sicherem Blick und fester Hand zur Verwirklichung gebracht haben.

In Wahrheit, er gleicht diesen praktischen Naturen, diesen Meistern in
der Kunst, mit Menschen und Dingen zu schalten, mehr als mit dem letzten
Zweck und dem Wesen der Wissenschaft verträglich ist. Der Systematiker
überwiegt in ihm den Philosophen. Ein intellectuelles organisa¬
torisches Genie, ist er mehr darauf bedacht gewesen, ein Reich des Gedankens
zu stiften, als der unendlichen Entwicklung der Wahrheit freie Bahn zu
schaffen. Indem er Alles daran setzte, die Herrschaft des Begriffs zur all¬
seitigen und unbedingten Anerkennung zu bringen, hat er nur zu oft Macht
vor Recht gehen lassen. Die Probe der Wahrheit erblickt er zuletzt in dem
Gelingen des Systems; mit einem geistvollen aber verhängnißvollen Ausdruck
preist er neben der Kraft die List der Vernunft; in dem Streben nach Katho-
licität sehen wir ihn überall Zugeständnisse machen, und dieses ganze kunst¬
reiche System ist zuletzt nichts als eine lange Kette von Compromissen zwi¬
schen Gedanken und Gedanken einerseits, zwischen Begriff und Wirklichkeit
andrerseits. Das ist es, was uns bei aller Bewunderung der pragmatischen
Weisheit, die dieses System geschaffen hat, je länger je mehr mit Mißtrauen
gegen den aufgewandten Scharfsinn sowohl wie gegen den unläugboren
Tiefsinn desselben — ja zuletzt mit Abneigung und Widerwillen erfüllt. Am
stärksten bemächtigen sich diese Empfindungen unseres Geistes, wenn wir, aus
dem Zauberkreis dieser Geschichte des Absoluten heraustretend, damit die
peinlich gewissenhafte Fragstellung Kant's oder die heldenmäßigen^ Anstren¬
gungen Lesstng's, auch nur einen Fußbreit weiter vorzudringen in dem Lande


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[0391] Man mag über die Tragbarkeit der Fundamente dieses Gedankengebäudes und über die Festigkeit seiner Verzahnungen denken wie man will: vor der methodischen Geduld und der zähen Kraft, mit der es errichtet und bis in den entlegensten Winkel immer vollständiger ausgebaut wurde, wird man nicht umhin können Respect zu haben. Man wird endlich diese nach¬ haltige und ausgiebige Gedankenkraft nicht bewundern dürfen ohne zugleich die Stärke des Willens und den gediegenen Charakter zu bewun¬ dern, der zwar nicht ohne Nachgiebigkeit gegen Menschen und Verhältnisse, aber unbeugsam in dem geistigen Kampf mit den Mächten der Wirklichkeit, in der Bewältigung der sprödesten Massen, in der Besiegung der scheinbar unüberwindlichsten Schwierigkeiten war. Glänzende Beispiele eines nicht zu ermüdenden Scharfsinns, eines immer Stand haltenden Tiefsinns haben auch andre Denker gegeben, aber in der gleichmäßigen Standhaftigkeit der massen¬ bewältigenden organisatorischen Arbeit hat Hegel sie alle übertroffen. Der kraftvollste aller philosophischen Systematiker. ist er nur mit jenen Gesetzgebern und Staatsmännern zu vergleichen, welche Reiche und Verfassungen gegründet oder einen großen politischen Gedanken in immer wechselnder Stellung den¬ noch mit sicherem Blick und fester Hand zur Verwirklichung gebracht haben. In Wahrheit, er gleicht diesen praktischen Naturen, diesen Meistern in der Kunst, mit Menschen und Dingen zu schalten, mehr als mit dem letzten Zweck und dem Wesen der Wissenschaft verträglich ist. Der Systematiker überwiegt in ihm den Philosophen. Ein intellectuelles organisa¬ torisches Genie, ist er mehr darauf bedacht gewesen, ein Reich des Gedankens zu stiften, als der unendlichen Entwicklung der Wahrheit freie Bahn zu schaffen. Indem er Alles daran setzte, die Herrschaft des Begriffs zur all¬ seitigen und unbedingten Anerkennung zu bringen, hat er nur zu oft Macht vor Recht gehen lassen. Die Probe der Wahrheit erblickt er zuletzt in dem Gelingen des Systems; mit einem geistvollen aber verhängnißvollen Ausdruck preist er neben der Kraft die List der Vernunft; in dem Streben nach Katho- licität sehen wir ihn überall Zugeständnisse machen, und dieses ganze kunst¬ reiche System ist zuletzt nichts als eine lange Kette von Compromissen zwi¬ schen Gedanken und Gedanken einerseits, zwischen Begriff und Wirklichkeit andrerseits. Das ist es, was uns bei aller Bewunderung der pragmatischen Weisheit, die dieses System geschaffen hat, je länger je mehr mit Mißtrauen gegen den aufgewandten Scharfsinn sowohl wie gegen den unläugboren Tiefsinn desselben — ja zuletzt mit Abneigung und Widerwillen erfüllt. Am stärksten bemächtigen sich diese Empfindungen unseres Geistes, wenn wir, aus dem Zauberkreis dieser Geschichte des Absoluten heraustretend, damit die peinlich gewissenhafte Fragstellung Kant's oder die heldenmäßigen^ Anstren¬ gungen Lesstng's, auch nur einen Fußbreit weiter vorzudringen in dem Lande

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/391>, abgerufen am 26.06.2024.