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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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schengeschlechts jene Anhöhe erstieg, von der er entzückten Auges "etwas
mehr als den vorgeschriebenen Weg des Tages" zu erblicken glaubte, da,
wo Kant in der Kritik der Urtheilskraft die Idee eines "intuitiver Verstan¬
des" ausstellte, da liefen die Ränder der kritisch reflectirenden und der ästhe¬
tisch anschauenden Erkenntnißweise und Weltauffassung ineinander. Sie strebten
zu innigerer Mischung, zu kühnerer Durchdringung zusammen. An dem
Stoff der natürlichen und andrerseits der geschichtlichen Welt wurde die Probe
gemacht, wie weit es möglich sei, sich in genialer Anschaung, nachschaffend,
dem Künstler gleich, in die Dinge zu versetzen und ihnen doch zugleich mit
freiem kritischen Bewußtsein gegenüberzustehn. Inmitten jener glänzenden
Entwickelung der Naturwissenschaften, vor der aus einmal die Natur an
zahlreichen Punkten ihr bisher verschlossenes Innere zu öffnen schien, wurde
von der Schelling'schen Naturphilosophie der verwegene Gedanke durchgeführt,
daß in der Geschichte unsres eignen Geistes zugleich die Geschichte der Natur
zu lesen sei. Auf demselben Wege den Sinn der Menschengeschichte und die
Gesetze der verschiedenen Bildungssphären zu ergründen, war ein viel aus¬
sichtsreicheres Unternehmen, das doch zunächst von den Kritikern und Litera¬
turhistorikern der romantischen Schule, von Friedrich Schlegel in vorderster
Reihe, in viel bescheidneren Umfange durchgeführt wurde. Von der Geschichte
der Dichtung als einer Weltgeschichte der Phantasie ging das dichterische Ge¬
schlecht aus, während eine Geschichte der sich entwickelnden Vernunft und der
sich entwickelnden Freiheit nur erst in weiterer Ferne in Aussicht genommen
wurde. Hier wie dort aber steigerte sich das Vertrauen zu der Ergiebigkeit
der zugleich kritischen und zugleich intuitiver Methode bis zu dem Aberglau¬
ben an eine Universalmethode und in Folge dessen zu dem Gedanken eines
universellen encyklopädischen Systems. Die Aufgabe, das ganze Universum
dem Blicke des erkennenden Geistes durchsichtig zu machen, lehnte sich auf
der einen Seite an die Wissenschaftslehre Fichte's, welche das Ich für den
Schöpfer der Welt erklärte, aus der anderen Seite an die durch Jacobi wie¬
der lebendig gewordene Lehre Spinoza's, welche das Ich in der erkannten
Allgegenwart der unendlichen Welt sich versenken hieß. Auf Grund dieser
idealistischen Zuspitzung sowohl der kritischen wie der genial anschauenden
Denkweise verwandelte sich die Naturforschung in Naturphilosophie, die Ge¬
schichtsforschung in Philosophie der Geschichte. Es war nur übrig, Beides
in Eins zu fassen, in Einer Continuität, nach Einem großen Plane, Einem
beweglich sich durchführenden Gesetze den ganzen natürlichen und geistigen
Kosmos in reflectirender Anschauung sich entfalten zu lassen. Alle die Männer,
die sich am Ende des vorigen und am Anfang des gegenwärtigen Jahrhun¬
derts in der Atmosphäre von Jena und Weimar, unter dem Einfluß Goethe's
vor Allen und Fichte's gebildet hatten, lieferten ihren Beitrag zu dieser neuen,


schengeschlechts jene Anhöhe erstieg, von der er entzückten Auges „etwas
mehr als den vorgeschriebenen Weg des Tages" zu erblicken glaubte, da,
wo Kant in der Kritik der Urtheilskraft die Idee eines „intuitiver Verstan¬
des" ausstellte, da liefen die Ränder der kritisch reflectirenden und der ästhe¬
tisch anschauenden Erkenntnißweise und Weltauffassung ineinander. Sie strebten
zu innigerer Mischung, zu kühnerer Durchdringung zusammen. An dem
Stoff der natürlichen und andrerseits der geschichtlichen Welt wurde die Probe
gemacht, wie weit es möglich sei, sich in genialer Anschaung, nachschaffend,
dem Künstler gleich, in die Dinge zu versetzen und ihnen doch zugleich mit
freiem kritischen Bewußtsein gegenüberzustehn. Inmitten jener glänzenden
Entwickelung der Naturwissenschaften, vor der aus einmal die Natur an
zahlreichen Punkten ihr bisher verschlossenes Innere zu öffnen schien, wurde
von der Schelling'schen Naturphilosophie der verwegene Gedanke durchgeführt,
daß in der Geschichte unsres eignen Geistes zugleich die Geschichte der Natur
zu lesen sei. Auf demselben Wege den Sinn der Menschengeschichte und die
Gesetze der verschiedenen Bildungssphären zu ergründen, war ein viel aus¬
sichtsreicheres Unternehmen, das doch zunächst von den Kritikern und Litera¬
turhistorikern der romantischen Schule, von Friedrich Schlegel in vorderster
Reihe, in viel bescheidneren Umfange durchgeführt wurde. Von der Geschichte
der Dichtung als einer Weltgeschichte der Phantasie ging das dichterische Ge¬
schlecht aus, während eine Geschichte der sich entwickelnden Vernunft und der
sich entwickelnden Freiheit nur erst in weiterer Ferne in Aussicht genommen
wurde. Hier wie dort aber steigerte sich das Vertrauen zu der Ergiebigkeit
der zugleich kritischen und zugleich intuitiver Methode bis zu dem Aberglau¬
ben an eine Universalmethode und in Folge dessen zu dem Gedanken eines
universellen encyklopädischen Systems. Die Aufgabe, das ganze Universum
dem Blicke des erkennenden Geistes durchsichtig zu machen, lehnte sich auf
der einen Seite an die Wissenschaftslehre Fichte's, welche das Ich für den
Schöpfer der Welt erklärte, aus der anderen Seite an die durch Jacobi wie¬
der lebendig gewordene Lehre Spinoza's, welche das Ich in der erkannten
Allgegenwart der unendlichen Welt sich versenken hieß. Auf Grund dieser
idealistischen Zuspitzung sowohl der kritischen wie der genial anschauenden
Denkweise verwandelte sich die Naturforschung in Naturphilosophie, die Ge¬
schichtsforschung in Philosophie der Geschichte. Es war nur übrig, Beides
in Eins zu fassen, in Einer Continuität, nach Einem großen Plane, Einem
beweglich sich durchführenden Gesetze den ganzen natürlichen und geistigen
Kosmos in reflectirender Anschauung sich entfalten zu lassen. Alle die Männer,
die sich am Ende des vorigen und am Anfang des gegenwärtigen Jahrhun¬
derts in der Atmosphäre von Jena und Weimar, unter dem Einfluß Goethe's
vor Allen und Fichte's gebildet hatten, lieferten ihren Beitrag zu dieser neuen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/389>, abgerufen am 26.06.2024.