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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Gewand, das uns heut bereits über die Maaßen steif und altfränkisch vor¬
kommt, das aber trotz seines pedantischen Faltenwurfes und trotz seines un¬
bequemen Schnitts von solideren Stoff als die gemüthliche Studententracht
des damaligen Teutonenthums war. Es war etwas, daß der Süddeutsche
durch alle Poesie und alle Ideologie hindurch den Weg zur Anerkennung
des strengen und prosaischen, aber kräftigen und festgefugten norddeutschen
Staates gefunden hatte, der bestimmt war, der Eckstein deutscher Freiheit
und Einheit zu werden. Eben diese Wandlung der Stimmungen und Ueber¬
zeugung hat sich in einfacherer, unmittelbarerer Weise durch die Gewalt der
Thatsachen in immer weiterem Umfang vollzogen; sie hat in der Begeiste¬
rung unserer Gegenwart alle Gemüther ergriffen, und in dem Augenblick, in
welchem sie die Feuerprobe besteht, darf daher mit vollen Ehren des Philo¬
sophen gedacht werden, der rücksichtsloser und unbedingter als irgend ein Anderer
schon vor einem halben Jahrhundert für den preußischen Staat Partei ergriff.

Gleichwohl thäten wir ohne Zweifel dem Philosophen bitteres Unrecht,
wenn wir das Recht, ihn zu feiern, einzig an den Beziehungen messen woll¬
ten, die er zu den Stimmungen und Begebenheiten des gegenwärtigen Mo¬
ments hat. Sein Anspruch auf eine Stelle in dem Pantheon der Deutschen
wäre schlecht begründet, wenn seine Wirkungen nicht weiter reichten, wenn
sich die Spuren seines Geistes nicht in dem gesammten Denken und Fühlen
unserer Nation aufzeigen ließen. Wir versuchen es, hundert Jahre nach
seiner Geburt, ihn und sein Werk mit möglichster Unbefangenheit und Oojec-
tivität zu beurtheilen.

Das zunächst, auch wenn wir ganz in die eignen Intentionen Hegel's
eingehn, ist offenbar, daß er nicht sowohl ein Neuerer als ein Vollen¬
der gewesen ist. Er selbst stellt sein System als den Gipfel aller vorange¬
gangenen philosophischen Entwickelungen dar: eine genaue Analyse desselben
zeigt, wie es mindestens die geistigen Strömungen der Generation, der er
selbst angehörte und derjenigen, die ihm unmittelbar vorangegangen war,
abschließend zusammenfaßte.

Einen fruchtbareren und bedeutsameren Moment hat es in Wahrheit
niemals gegeben als den, in welchem die kritische verständige Richtung
Lessings und Kants mit der in Winckelmann und Herder, in Goethe und
Schiller mächtigen Anschauung und Empfindung zusammenstieß. Während
jene die Grenzen der Dinge gegen einander und die Grenzen des erkennen¬
den Geistes den Dingen gegenüber in die schärfste Beleuchtung rückten, so
zeigten diese, daß sich dem ganzen lebendig bewegten Geiste die Welt in
ihrem innersten Gefüge dennoch erschließen könne. Die Verbindung dieser
zwiefachen, gleichberechtigten Strebungen trat als die lockendste Perspective in
den Gesichtskreis der Menschen. Do, wo Lessing in der Erziehung des Mer-


Gewand, das uns heut bereits über die Maaßen steif und altfränkisch vor¬
kommt, das aber trotz seines pedantischen Faltenwurfes und trotz seines un¬
bequemen Schnitts von solideren Stoff als die gemüthliche Studententracht
des damaligen Teutonenthums war. Es war etwas, daß der Süddeutsche
durch alle Poesie und alle Ideologie hindurch den Weg zur Anerkennung
des strengen und prosaischen, aber kräftigen und festgefugten norddeutschen
Staates gefunden hatte, der bestimmt war, der Eckstein deutscher Freiheit
und Einheit zu werden. Eben diese Wandlung der Stimmungen und Ueber¬
zeugung hat sich in einfacherer, unmittelbarerer Weise durch die Gewalt der
Thatsachen in immer weiterem Umfang vollzogen; sie hat in der Begeiste¬
rung unserer Gegenwart alle Gemüther ergriffen, und in dem Augenblick, in
welchem sie die Feuerprobe besteht, darf daher mit vollen Ehren des Philo¬
sophen gedacht werden, der rücksichtsloser und unbedingter als irgend ein Anderer
schon vor einem halben Jahrhundert für den preußischen Staat Partei ergriff.

Gleichwohl thäten wir ohne Zweifel dem Philosophen bitteres Unrecht,
wenn wir das Recht, ihn zu feiern, einzig an den Beziehungen messen woll¬
ten, die er zu den Stimmungen und Begebenheiten des gegenwärtigen Mo¬
ments hat. Sein Anspruch auf eine Stelle in dem Pantheon der Deutschen
wäre schlecht begründet, wenn seine Wirkungen nicht weiter reichten, wenn
sich die Spuren seines Geistes nicht in dem gesammten Denken und Fühlen
unserer Nation aufzeigen ließen. Wir versuchen es, hundert Jahre nach
seiner Geburt, ihn und sein Werk mit möglichster Unbefangenheit und Oojec-
tivität zu beurtheilen.

Das zunächst, auch wenn wir ganz in die eignen Intentionen Hegel's
eingehn, ist offenbar, daß er nicht sowohl ein Neuerer als ein Vollen¬
der gewesen ist. Er selbst stellt sein System als den Gipfel aller vorange¬
gangenen philosophischen Entwickelungen dar: eine genaue Analyse desselben
zeigt, wie es mindestens die geistigen Strömungen der Generation, der er
selbst angehörte und derjenigen, die ihm unmittelbar vorangegangen war,
abschließend zusammenfaßte.

Einen fruchtbareren und bedeutsameren Moment hat es in Wahrheit
niemals gegeben als den, in welchem die kritische verständige Richtung
Lessings und Kants mit der in Winckelmann und Herder, in Goethe und
Schiller mächtigen Anschauung und Empfindung zusammenstieß. Während
jene die Grenzen der Dinge gegen einander und die Grenzen des erkennen¬
den Geistes den Dingen gegenüber in die schärfste Beleuchtung rückten, so
zeigten diese, daß sich dem ganzen lebendig bewegten Geiste die Welt in
ihrem innersten Gefüge dennoch erschließen könne. Die Verbindung dieser
zwiefachen, gleichberechtigten Strebungen trat als die lockendste Perspective in
den Gesichtskreis der Menschen. Do, wo Lessing in der Erziehung des Mer-


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[0388] Gewand, das uns heut bereits über die Maaßen steif und altfränkisch vor¬ kommt, das aber trotz seines pedantischen Faltenwurfes und trotz seines un¬ bequemen Schnitts von solideren Stoff als die gemüthliche Studententracht des damaligen Teutonenthums war. Es war etwas, daß der Süddeutsche durch alle Poesie und alle Ideologie hindurch den Weg zur Anerkennung des strengen und prosaischen, aber kräftigen und festgefugten norddeutschen Staates gefunden hatte, der bestimmt war, der Eckstein deutscher Freiheit und Einheit zu werden. Eben diese Wandlung der Stimmungen und Ueber¬ zeugung hat sich in einfacherer, unmittelbarerer Weise durch die Gewalt der Thatsachen in immer weiterem Umfang vollzogen; sie hat in der Begeiste¬ rung unserer Gegenwart alle Gemüther ergriffen, und in dem Augenblick, in welchem sie die Feuerprobe besteht, darf daher mit vollen Ehren des Philo¬ sophen gedacht werden, der rücksichtsloser und unbedingter als irgend ein Anderer schon vor einem halben Jahrhundert für den preußischen Staat Partei ergriff. Gleichwohl thäten wir ohne Zweifel dem Philosophen bitteres Unrecht, wenn wir das Recht, ihn zu feiern, einzig an den Beziehungen messen woll¬ ten, die er zu den Stimmungen und Begebenheiten des gegenwärtigen Mo¬ ments hat. Sein Anspruch auf eine Stelle in dem Pantheon der Deutschen wäre schlecht begründet, wenn seine Wirkungen nicht weiter reichten, wenn sich die Spuren seines Geistes nicht in dem gesammten Denken und Fühlen unserer Nation aufzeigen ließen. Wir versuchen es, hundert Jahre nach seiner Geburt, ihn und sein Werk mit möglichster Unbefangenheit und Oojec- tivität zu beurtheilen. Das zunächst, auch wenn wir ganz in die eignen Intentionen Hegel's eingehn, ist offenbar, daß er nicht sowohl ein Neuerer als ein Vollen¬ der gewesen ist. Er selbst stellt sein System als den Gipfel aller vorange¬ gangenen philosophischen Entwickelungen dar: eine genaue Analyse desselben zeigt, wie es mindestens die geistigen Strömungen der Generation, der er selbst angehörte und derjenigen, die ihm unmittelbar vorangegangen war, abschließend zusammenfaßte. Einen fruchtbareren und bedeutsameren Moment hat es in Wahrheit niemals gegeben als den, in welchem die kritische verständige Richtung Lessings und Kants mit der in Winckelmann und Herder, in Goethe und Schiller mächtigen Anschauung und Empfindung zusammenstieß. Während jene die Grenzen der Dinge gegen einander und die Grenzen des erkennen¬ den Geistes den Dingen gegenüber in die schärfste Beleuchtung rückten, so zeigten diese, daß sich dem ganzen lebendig bewegten Geiste die Welt in ihrem innersten Gefüge dennoch erschließen könne. Die Verbindung dieser zwiefachen, gleichberechtigten Strebungen trat als die lockendste Perspective in den Gesichtskreis der Menschen. Do, wo Lessing in der Erziehung des Mer-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/388>, abgerufen am 26.06.2024.