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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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An Hegels hundertsten Geburtstag.

Am 27. August sind es hundert Jahre gewesen, daß Georg Wilhelm
Friedrich Hegel geboren wurde. Nicht leicht, scheint es, konnte die Säcular-
feier des letzten unserer großen Philosophen in einen ungünstigeren Zeitpunkt
fallen, als der gegenwärtige ist. Denn nur gewaltsam ziehen wir unsere
Gedanken von den ungeheuren Ereignissen ab, die in diesen Tagen unser
Herz überfüllen. Unter dem Siegesjubel und den Zukunftshoffnungen, die
sich an jede neue Botschaft von den Schlachtfeldern Frankreichs heften, will
uns das Bild des großen Denkers so wenig Stand halten, wie vor einund¬
zwanzig Jahren unter dem Eindruck der Scheiternden deutschen Revolution
das Bild des großen Dichters. Damals wie jetzt fehlten dem Feste die
Festtheilnehmer, den Festtheilnehmern die freie Stimmung der Seele. Wun¬
derbare Wandlungen und Erschütterungen des nationalen Lebens! Die Deut¬
schen haben nicht Zeit, ihren Goethe und ihren Hegel zu feiern!

Ja, viel ungünstiger noch scheint auf den ersten Anblick die Sache Hegel's
als Goethe's zu liegen. Das Bedürfniß, in abgezogener Betrachtung den
letzten Räthseln des Daseins nachzuspüren, ist dem heutigen Geschlechte um
Vieles fremder geworden, als jemals irgend einem Geschlechte die Stimme
der Dichtung werden kann. Kaum sind wir heute im Stande, die Anschau¬
ung Hegel's zu fassen und billig zu beurtheilen, mit der er nach den Be¬
freiungskriegen vor seine Zuhörer trat, um es als die erste Aufgabe der be¬
freiten Nation zu bezeichnen, sich wieder ganz der inneren Bildung, der
"denkenden Einkehr des bisher nach Außen gerissenen Geistes in sich" zu
widmen. Der Name Hegel's endlich, was die Hauptsache ist, hat bei Weitem
nicht den universellen Klang wie der Name des Dichters der Iphigenie und
des Faust. Nur überschwängliche Schulverehrung mag ihm den stolzen
Titel des deutschen Nationalphilosophen zuwenden. Der Gründer eines
Systems, der Stifter einer Schule, ist er eine Particularität geworden, und
erst in dem Maße, als die Schüler selten zu werden anfangen, wird es wieder
möglich, die allgemeine Bedeutung gerecht zu würdigen, die dem Meister in


Grenzboten III. 1870. 49
An Hegels hundertsten Geburtstag.

Am 27. August sind es hundert Jahre gewesen, daß Georg Wilhelm
Friedrich Hegel geboren wurde. Nicht leicht, scheint es, konnte die Säcular-
feier des letzten unserer großen Philosophen in einen ungünstigeren Zeitpunkt
fallen, als der gegenwärtige ist. Denn nur gewaltsam ziehen wir unsere
Gedanken von den ungeheuren Ereignissen ab, die in diesen Tagen unser
Herz überfüllen. Unter dem Siegesjubel und den Zukunftshoffnungen, die
sich an jede neue Botschaft von den Schlachtfeldern Frankreichs heften, will
uns das Bild des großen Denkers so wenig Stand halten, wie vor einund¬
zwanzig Jahren unter dem Eindruck der Scheiternden deutschen Revolution
das Bild des großen Dichters. Damals wie jetzt fehlten dem Feste die
Festtheilnehmer, den Festtheilnehmern die freie Stimmung der Seele. Wun¬
derbare Wandlungen und Erschütterungen des nationalen Lebens! Die Deut¬
schen haben nicht Zeit, ihren Goethe und ihren Hegel zu feiern!

Ja, viel ungünstiger noch scheint auf den ersten Anblick die Sache Hegel's
als Goethe's zu liegen. Das Bedürfniß, in abgezogener Betrachtung den
letzten Räthseln des Daseins nachzuspüren, ist dem heutigen Geschlechte um
Vieles fremder geworden, als jemals irgend einem Geschlechte die Stimme
der Dichtung werden kann. Kaum sind wir heute im Stande, die Anschau¬
ung Hegel's zu fassen und billig zu beurtheilen, mit der er nach den Be¬
freiungskriegen vor seine Zuhörer trat, um es als die erste Aufgabe der be¬
freiten Nation zu bezeichnen, sich wieder ganz der inneren Bildung, der
„denkenden Einkehr des bisher nach Außen gerissenen Geistes in sich" zu
widmen. Der Name Hegel's endlich, was die Hauptsache ist, hat bei Weitem
nicht den universellen Klang wie der Name des Dichters der Iphigenie und
des Faust. Nur überschwängliche Schulverehrung mag ihm den stolzen
Titel des deutschen Nationalphilosophen zuwenden. Der Gründer eines
Systems, der Stifter einer Schule, ist er eine Particularität geworden, und
erst in dem Maße, als die Schüler selten zu werden anfangen, wird es wieder
möglich, die allgemeine Bedeutung gerecht zu würdigen, die dem Meister in


Grenzboten III. 1870. 49
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[0385] An Hegels hundertsten Geburtstag. Am 27. August sind es hundert Jahre gewesen, daß Georg Wilhelm Friedrich Hegel geboren wurde. Nicht leicht, scheint es, konnte die Säcular- feier des letzten unserer großen Philosophen in einen ungünstigeren Zeitpunkt fallen, als der gegenwärtige ist. Denn nur gewaltsam ziehen wir unsere Gedanken von den ungeheuren Ereignissen ab, die in diesen Tagen unser Herz überfüllen. Unter dem Siegesjubel und den Zukunftshoffnungen, die sich an jede neue Botschaft von den Schlachtfeldern Frankreichs heften, will uns das Bild des großen Denkers so wenig Stand halten, wie vor einund¬ zwanzig Jahren unter dem Eindruck der Scheiternden deutschen Revolution das Bild des großen Dichters. Damals wie jetzt fehlten dem Feste die Festtheilnehmer, den Festtheilnehmern die freie Stimmung der Seele. Wun¬ derbare Wandlungen und Erschütterungen des nationalen Lebens! Die Deut¬ schen haben nicht Zeit, ihren Goethe und ihren Hegel zu feiern! Ja, viel ungünstiger noch scheint auf den ersten Anblick die Sache Hegel's als Goethe's zu liegen. Das Bedürfniß, in abgezogener Betrachtung den letzten Räthseln des Daseins nachzuspüren, ist dem heutigen Geschlechte um Vieles fremder geworden, als jemals irgend einem Geschlechte die Stimme der Dichtung werden kann. Kaum sind wir heute im Stande, die Anschau¬ ung Hegel's zu fassen und billig zu beurtheilen, mit der er nach den Be¬ freiungskriegen vor seine Zuhörer trat, um es als die erste Aufgabe der be¬ freiten Nation zu bezeichnen, sich wieder ganz der inneren Bildung, der „denkenden Einkehr des bisher nach Außen gerissenen Geistes in sich" zu widmen. Der Name Hegel's endlich, was die Hauptsache ist, hat bei Weitem nicht den universellen Klang wie der Name des Dichters der Iphigenie und des Faust. Nur überschwängliche Schulverehrung mag ihm den stolzen Titel des deutschen Nationalphilosophen zuwenden. Der Gründer eines Systems, der Stifter einer Schule, ist er eine Particularität geworden, und erst in dem Maße, als die Schüler selten zu werden anfangen, wird es wieder möglich, die allgemeine Bedeutung gerecht zu würdigen, die dem Meister in Grenzboten III. 1870. 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/385>, abgerufen am 26.06.2024.