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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Bezug auf unser gesäumtes geistiges Leben zukommt. In keinem Falle steht
sein Name höher in der durchschnittlichen Schätzung der Gegenwart, als daß
man ihm einen ebenbürtigen Platz in der Reihe der übrigen deutschen Philo-
sophen, neben den Kant und Fichte, den Herbart und Schelling einräumt.
Die meisten Beurtheiler, fürchten wir, werden hinzufügen, daß, Alles in
Allem genommen, seine Verdienste um das Reich der Wissenschaften und um
die Förderung der Wahrheit die zweifelhaftesten seien, und daß, wenn doch
einmal von dem deutschen Nationalphtlosophen schlechtweg die Rede sein solle,
nur Kant in solcher Weise hervorgehoben werden dürfe. In der That
-- von den Stimmen der besonderen philosophischen Secten und Parteien,
von den Feindseligkeiten der Anhänger Herbart's, den Rohheiten der Nach-
treter Schopenhauer's ganz zu schweigen -- auch unter den Vertretern
der Fachwissenschaften, unter den eigentlichen Führern der Wissenschaft der
Gegenwart dürften bei weitem die meisten mit entschiedener Ungunst auf
den Urheber des "absoluten Idealismus" herabsehen. In der Vorstellung
der exacten Naturforscher ist der Name Hegel's gleichbedeutend mit dem eines
verwegenen Phantasten und Sophisten. Längst haben auch Politiker und
Theologen, die Anhänger des Alten so gut wie die freier gesinnten, auf¬
gehört, in dem System Hegel's eine Stütze ihrer Bestrebungen zu erblicken.
Unter den Historikern vielleicht noch am meisten haben sich einige ein ge¬
wisses Verhältniß zu diesem Systeme bewahrt, und am tiefsten dürften die
Spuren seiner Wirkung sich der ästhetischen Bildung unseres Volkes bis auf
den heutigen Tag eingedrückt haben.

Dennoch -- solch' ein Proteus ist dieser Mann und von so wunderbarer
Vielseitigkeit sein Gedankengebäude, daß es gar nicht schwer fällt, mehr als
Einen Berührungspunkt aufzuzeigen zwischen ihm und unseren gegenwärtig¬
sten, unmittelbarsten Interessen. Es darf behauptet werden: er würde sich
leichter in unsere heutige Welt finden, als diese geneigt ist, sich in ihn
zu finden. Das großartige und erhabene Schauspiel dieser Tage, der eiserne
Wettkampf zweier tapferer Völker, in welchem jedes seine ganze Individualität
einsetzt, würde für ihn -- den größten Lobredner des theoretischen Lebens
seit Aristoteles -- nichts Befremdendes und nichts Abstoßendes haben. Die
Tragödie des Krieges hat Hegel allezeit als eine sittliche und geschichtliche
Nothwendigkeit begriffen und mit immer gleichem Nachdruck hat er den An¬
sprüchen des verweichlichten, in Endlichkeit und Eitelkeit befangenen Ge¬
müths die Pflicht der Tapferkeit, der Hingabe des Einzellebens an die Zwecke
des Allgemeinen entgegengehalten. Die Erkenntniß, daß in den Schicksalen
der Völker Vernunft walte, diese Erkenntniß, die sich uns in den Gerichten
dieser Tage wunderbar bewährt und sich mit sinnlicher Evidenz unserem Geiste
aufdrängt, ist niemals in unbedingterer Weise formulirt worden, als in der


Bezug auf unser gesäumtes geistiges Leben zukommt. In keinem Falle steht
sein Name höher in der durchschnittlichen Schätzung der Gegenwart, als daß
man ihm einen ebenbürtigen Platz in der Reihe der übrigen deutschen Philo-
sophen, neben den Kant und Fichte, den Herbart und Schelling einräumt.
Die meisten Beurtheiler, fürchten wir, werden hinzufügen, daß, Alles in
Allem genommen, seine Verdienste um das Reich der Wissenschaften und um
die Förderung der Wahrheit die zweifelhaftesten seien, und daß, wenn doch
einmal von dem deutschen Nationalphtlosophen schlechtweg die Rede sein solle,
nur Kant in solcher Weise hervorgehoben werden dürfe. In der That
— von den Stimmen der besonderen philosophischen Secten und Parteien,
von den Feindseligkeiten der Anhänger Herbart's, den Rohheiten der Nach-
treter Schopenhauer's ganz zu schweigen — auch unter den Vertretern
der Fachwissenschaften, unter den eigentlichen Führern der Wissenschaft der
Gegenwart dürften bei weitem die meisten mit entschiedener Ungunst auf
den Urheber des „absoluten Idealismus" herabsehen. In der Vorstellung
der exacten Naturforscher ist der Name Hegel's gleichbedeutend mit dem eines
verwegenen Phantasten und Sophisten. Längst haben auch Politiker und
Theologen, die Anhänger des Alten so gut wie die freier gesinnten, auf¬
gehört, in dem System Hegel's eine Stütze ihrer Bestrebungen zu erblicken.
Unter den Historikern vielleicht noch am meisten haben sich einige ein ge¬
wisses Verhältniß zu diesem Systeme bewahrt, und am tiefsten dürften die
Spuren seiner Wirkung sich der ästhetischen Bildung unseres Volkes bis auf
den heutigen Tag eingedrückt haben.

Dennoch — solch' ein Proteus ist dieser Mann und von so wunderbarer
Vielseitigkeit sein Gedankengebäude, daß es gar nicht schwer fällt, mehr als
Einen Berührungspunkt aufzuzeigen zwischen ihm und unseren gegenwärtig¬
sten, unmittelbarsten Interessen. Es darf behauptet werden: er würde sich
leichter in unsere heutige Welt finden, als diese geneigt ist, sich in ihn
zu finden. Das großartige und erhabene Schauspiel dieser Tage, der eiserne
Wettkampf zweier tapferer Völker, in welchem jedes seine ganze Individualität
einsetzt, würde für ihn — den größten Lobredner des theoretischen Lebens
seit Aristoteles — nichts Befremdendes und nichts Abstoßendes haben. Die
Tragödie des Krieges hat Hegel allezeit als eine sittliche und geschichtliche
Nothwendigkeit begriffen und mit immer gleichem Nachdruck hat er den An¬
sprüchen des verweichlichten, in Endlichkeit und Eitelkeit befangenen Ge¬
müths die Pflicht der Tapferkeit, der Hingabe des Einzellebens an die Zwecke
des Allgemeinen entgegengehalten. Die Erkenntniß, daß in den Schicksalen
der Völker Vernunft walte, diese Erkenntniß, die sich uns in den Gerichten
dieser Tage wunderbar bewährt und sich mit sinnlicher Evidenz unserem Geiste
aufdrängt, ist niemals in unbedingterer Weise formulirt worden, als in der


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[0386] Bezug auf unser gesäumtes geistiges Leben zukommt. In keinem Falle steht sein Name höher in der durchschnittlichen Schätzung der Gegenwart, als daß man ihm einen ebenbürtigen Platz in der Reihe der übrigen deutschen Philo- sophen, neben den Kant und Fichte, den Herbart und Schelling einräumt. Die meisten Beurtheiler, fürchten wir, werden hinzufügen, daß, Alles in Allem genommen, seine Verdienste um das Reich der Wissenschaften und um die Förderung der Wahrheit die zweifelhaftesten seien, und daß, wenn doch einmal von dem deutschen Nationalphtlosophen schlechtweg die Rede sein solle, nur Kant in solcher Weise hervorgehoben werden dürfe. In der That — von den Stimmen der besonderen philosophischen Secten und Parteien, von den Feindseligkeiten der Anhänger Herbart's, den Rohheiten der Nach- treter Schopenhauer's ganz zu schweigen — auch unter den Vertretern der Fachwissenschaften, unter den eigentlichen Führern der Wissenschaft der Gegenwart dürften bei weitem die meisten mit entschiedener Ungunst auf den Urheber des „absoluten Idealismus" herabsehen. In der Vorstellung der exacten Naturforscher ist der Name Hegel's gleichbedeutend mit dem eines verwegenen Phantasten und Sophisten. Längst haben auch Politiker und Theologen, die Anhänger des Alten so gut wie die freier gesinnten, auf¬ gehört, in dem System Hegel's eine Stütze ihrer Bestrebungen zu erblicken. Unter den Historikern vielleicht noch am meisten haben sich einige ein ge¬ wisses Verhältniß zu diesem Systeme bewahrt, und am tiefsten dürften die Spuren seiner Wirkung sich der ästhetischen Bildung unseres Volkes bis auf den heutigen Tag eingedrückt haben. Dennoch — solch' ein Proteus ist dieser Mann und von so wunderbarer Vielseitigkeit sein Gedankengebäude, daß es gar nicht schwer fällt, mehr als Einen Berührungspunkt aufzuzeigen zwischen ihm und unseren gegenwärtig¬ sten, unmittelbarsten Interessen. Es darf behauptet werden: er würde sich leichter in unsere heutige Welt finden, als diese geneigt ist, sich in ihn zu finden. Das großartige und erhabene Schauspiel dieser Tage, der eiserne Wettkampf zweier tapferer Völker, in welchem jedes seine ganze Individualität einsetzt, würde für ihn — den größten Lobredner des theoretischen Lebens seit Aristoteles — nichts Befremdendes und nichts Abstoßendes haben. Die Tragödie des Krieges hat Hegel allezeit als eine sittliche und geschichtliche Nothwendigkeit begriffen und mit immer gleichem Nachdruck hat er den An¬ sprüchen des verweichlichten, in Endlichkeit und Eitelkeit befangenen Ge¬ müths die Pflicht der Tapferkeit, der Hingabe des Einzellebens an die Zwecke des Allgemeinen entgegengehalten. Die Erkenntniß, daß in den Schicksalen der Völker Vernunft walte, diese Erkenntniß, die sich uns in den Gerichten dieser Tage wunderbar bewährt und sich mit sinnlicher Evidenz unserem Geiste aufdrängt, ist niemals in unbedingterer Weise formulirt worden, als in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/386>, abgerufen am 26.06.2024.