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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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nicht für die Pflichten blos, sondern auch für die Wünsche der Herzen nur
eine gemeinsame Zukunft.

Erschüttert durch die ungeheure Arbeit der letzten Kämpfe haben auch
die Kundigsten Zeit gebraucht, um die Wirkung zu übersehen. Wie es in
der umschlossenen Festung beschaffen ist, um deren jungfräulichen Kranz die
deutschen Heere werben, vermag Niemand zu ermessen; unter solchen Ver¬
hältnissen ist noch keine feste Stadt belagert worden. Die Tage, die jetzt
kommen, ändern die Rollen der Kämpfer; den Unsrigen ist nun andere
Arbeit mit anderem Tempo gegönnt. Sie werden jetzt ihrerseits sich fest¬
nisten auf dem Hügelterrain, in dem die Franzosen so furchtbare Stellungen
innehalten, werden den Feind, dem jeder Tag die Isolirung verhängnißvoller
macht, nöthigen, entweder den Kampf aufzugeben oder ihn wieder zu be¬
ginnen unter umgekehrten Bedingungen wie die waren, welche ihn trotz der
ungeheuren Vortheile erliegen ließen.

Aus der Ferne vermögen wir den Erfolg unserer letzten Thaten am
besten an dem Gebühren der Pariser zu studiren. Nichts redet deutlicher
von der Wucht der Stöße, die Frankreich erlitten, als dieses Unvermögen,
Thatsachen zu begreisen, wie das heutige Paris es zeigt. Soll sich ein Staat
aus ungeheurer Drangsal retten, so ist erstes Erfordernis daß er sich selbst
die Wahrheit gesteht. Unter den Franzosen aber hat der Lauf des Krieges
eine Sinnesverwirrung angerichtet, welche den Werth der immensen Mittel,
von denen sie reden, mehr als in Frage stellt. Und nicht blos dem geängstigten
Volke der Hauptstadt ist das Concept verloren gegangen: was wir von den
Verletzungen des Kriegsgebrauchs und der völkerrechtlichen Bestimmungen
hören, zeigt nicht blos von Rohheit der Sitten, (über die wir uns bei den
angeblichen Griechen der Neuzeit nie getäuscht haben), sondern sie läßt
Kopflosigkeit und Schwäche erkennen. Nur eins von beiden, wenn nicht bei¬
des zugleich ist auch die Austreibung der Deutschen; die Negierung vergißt
entweder den socialen und wirthschaftlichen Werth dieses edlen Bestandtheils,
oder sie traut sich die Macht nicht zu, ihn vor der Bestialität des Pöbels
zu beschützen. Sind auch über dieses Abc des völkerrechtlichen Anstandes
einige gewichtige Stimmen des gebildeten Frankreich im Klaren, so fehlt
doch selbst den besten unter ihnen die Fassung, wenn sie über die Lage der
Dinge im Großen reden. Wie ein Träumer, der vom Faustschlag plötzlich
erwacht, nicht Formen und Gestalten zu unterscheiden weiß, faselt die pariser
Presse theils im alten Jargon chovinistischer Ueberhebung weiter, als ob nichts
geschehen wäre, theils sieht sie Gespenster von abenteuerlichster Art. Diese
stolzen Weltbezwtnger gleichen Kranken, welche in der Agonie zwar noch die
mechanischen Functtonen des Lebens ausüben, aber ohne Zweckmäßigkeit
der Bewegung, ohne Kraft des Entschlusses; --- es ist die Selbstver-


nicht für die Pflichten blos, sondern auch für die Wünsche der Herzen nur
eine gemeinsame Zukunft.

Erschüttert durch die ungeheure Arbeit der letzten Kämpfe haben auch
die Kundigsten Zeit gebraucht, um die Wirkung zu übersehen. Wie es in
der umschlossenen Festung beschaffen ist, um deren jungfräulichen Kranz die
deutschen Heere werben, vermag Niemand zu ermessen; unter solchen Ver¬
hältnissen ist noch keine feste Stadt belagert worden. Die Tage, die jetzt
kommen, ändern die Rollen der Kämpfer; den Unsrigen ist nun andere
Arbeit mit anderem Tempo gegönnt. Sie werden jetzt ihrerseits sich fest¬
nisten auf dem Hügelterrain, in dem die Franzosen so furchtbare Stellungen
innehalten, werden den Feind, dem jeder Tag die Isolirung verhängnißvoller
macht, nöthigen, entweder den Kampf aufzugeben oder ihn wieder zu be¬
ginnen unter umgekehrten Bedingungen wie die waren, welche ihn trotz der
ungeheuren Vortheile erliegen ließen.

Aus der Ferne vermögen wir den Erfolg unserer letzten Thaten am
besten an dem Gebühren der Pariser zu studiren. Nichts redet deutlicher
von der Wucht der Stöße, die Frankreich erlitten, als dieses Unvermögen,
Thatsachen zu begreisen, wie das heutige Paris es zeigt. Soll sich ein Staat
aus ungeheurer Drangsal retten, so ist erstes Erfordernis daß er sich selbst
die Wahrheit gesteht. Unter den Franzosen aber hat der Lauf des Krieges
eine Sinnesverwirrung angerichtet, welche den Werth der immensen Mittel,
von denen sie reden, mehr als in Frage stellt. Und nicht blos dem geängstigten
Volke der Hauptstadt ist das Concept verloren gegangen: was wir von den
Verletzungen des Kriegsgebrauchs und der völkerrechtlichen Bestimmungen
hören, zeigt nicht blos von Rohheit der Sitten, (über die wir uns bei den
angeblichen Griechen der Neuzeit nie getäuscht haben), sondern sie läßt
Kopflosigkeit und Schwäche erkennen. Nur eins von beiden, wenn nicht bei¬
des zugleich ist auch die Austreibung der Deutschen; die Negierung vergißt
entweder den socialen und wirthschaftlichen Werth dieses edlen Bestandtheils,
oder sie traut sich die Macht nicht zu, ihn vor der Bestialität des Pöbels
zu beschützen. Sind auch über dieses Abc des völkerrechtlichen Anstandes
einige gewichtige Stimmen des gebildeten Frankreich im Klaren, so fehlt
doch selbst den besten unter ihnen die Fassung, wenn sie über die Lage der
Dinge im Großen reden. Wie ein Träumer, der vom Faustschlag plötzlich
erwacht, nicht Formen und Gestalten zu unterscheiden weiß, faselt die pariser
Presse theils im alten Jargon chovinistischer Ueberhebung weiter, als ob nichts
geschehen wäre, theils sieht sie Gespenster von abenteuerlichster Art. Diese
stolzen Weltbezwtnger gleichen Kranken, welche in der Agonie zwar noch die
mechanischen Functtonen des Lebens ausüben, aber ohne Zweckmäßigkeit
der Bewegung, ohne Kraft des Entschlusses; —- es ist die Selbstver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/383>, abgerufen am 26.06.2024.