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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Verhältniß hat sich seit der Befreiung vom Mutterlande äußerst wenig ge¬
ändert. Selbst das Institut des indianischen Gemeindebesitzes (ähnlich wie
in den russischen Gemeinden) ist nur da abgeschafft worden, wo die Ab¬
schaffung einzelnen angesehenen Creolen Vortheil bringen konnte. Wie viel
sich während des Kaisertums und seit dessen Fall in letzterem Punkte ge¬
ändert hat, vermögen wir nicht anzugeben.

Auf eine Geschichte der mexicanischen Parteikämpfe seit Gründung der
Republik können wir hier natürlich nicht eingehen. Zur Veranschaulichung
dör herrschenden Zustände wird es genügen, wenn wir anführen, daß binnen
33 Jahren 234 "glorreiche Erhebungen" stattgefunden haben, daß in diesem
Zeitraum die Staatsform achtmal gewechselt hat, daß 46 Personen hinter
einander die höchste Gewalt bekleidet und daß wenigstens 99 bis 100 Mini¬
sterien, also jährlich im Durchschnitt drei an dem Lande experimentirt haben.
Wir bemerken dabei, daß wir diese statistischen Angaben dem auf sorgfältigem
Studium und eigener Beobachtung beruhenden, für die Kenntniß der Zustände
Mexicos unentbehrlichen vortrefflichen Werke des Freiherrn von Richthosen: "Die
äußeren und inneren Zustände der Republik Mexico seit deren Unabhängig¬
keit bis auf die neueste Zeit 1869" entnehmen. Richthofen war schon 1859
der Meinung, daß eine durchgreifende Heilung von innen heraus bei der
Schlaffheit der Bevölkerung und dem überall verbreiteten Mangel an Ge¬
meinsinn kaum zu hoffen sei und daß eine gründliche Umgestaltung der
öffentlichen Zustände nur noch von außen her erwartet werden könne: eine
Ansicht, die auch von vielen angesehenen Mexicanern, nicht blos den Clericalen,
die später bet der Kaisertragödie mitgewirkt haben, sondern von den tüch¬
tigsten Patrioten getheilt wurde. Seitdem berechtigte Juarez' kräftige Ver¬
waltung zu besseren Hoffnungen; aber seine Wirksamkeit wurde durch das
Intermezzo der Occupation unterbrochen.

Zu diesen inneren Leiden kam die von Norden her beständig drohende
äußere Gefahr. Als die nach Westen und Süden vorschreitende Kolonisation
des nordamerikanischen Continents sich bis an die Grenzen Mexicos ausge¬
dehnt hatte, begannen sofort die Uebergriffe der nordamerikanischen Aben¬
teurer, der rastlos ins Weite strebenden Pioniere der Civilisation. Mexikani¬
sches Gebiet wurde besetzt, amerikanisirt, thatsächlich annectirt, und der Con-
greß war damals immer geneigt, so erfreulichen Thatsachen seine Sanciion
zu geben. Das Ergebniß der aus diesen Grenzfehden sich entwickelnden
Kriege, in denen das Recht fast immer auf Seiten Mexicos stand, war die
Einverleibung der größeren Hälfte der Vereinigten Staaten von Mexico in
das große angelsächsische Reich; und wie durch ein Wunder verwandelten sich
spärlich bevölkerte Steppen, deren vereinzelte Culturöasen sich nur mit Mühe
gegen die Angriffe umherschweifender Jndianerhorden behaupten konnten, in


Verhältniß hat sich seit der Befreiung vom Mutterlande äußerst wenig ge¬
ändert. Selbst das Institut des indianischen Gemeindebesitzes (ähnlich wie
in den russischen Gemeinden) ist nur da abgeschafft worden, wo die Ab¬
schaffung einzelnen angesehenen Creolen Vortheil bringen konnte. Wie viel
sich während des Kaisertums und seit dessen Fall in letzterem Punkte ge¬
ändert hat, vermögen wir nicht anzugeben.

Auf eine Geschichte der mexicanischen Parteikämpfe seit Gründung der
Republik können wir hier natürlich nicht eingehen. Zur Veranschaulichung
dör herrschenden Zustände wird es genügen, wenn wir anführen, daß binnen
33 Jahren 234 „glorreiche Erhebungen" stattgefunden haben, daß in diesem
Zeitraum die Staatsform achtmal gewechselt hat, daß 46 Personen hinter
einander die höchste Gewalt bekleidet und daß wenigstens 99 bis 100 Mini¬
sterien, also jährlich im Durchschnitt drei an dem Lande experimentirt haben.
Wir bemerken dabei, daß wir diese statistischen Angaben dem auf sorgfältigem
Studium und eigener Beobachtung beruhenden, für die Kenntniß der Zustände
Mexicos unentbehrlichen vortrefflichen Werke des Freiherrn von Richthosen: „Die
äußeren und inneren Zustände der Republik Mexico seit deren Unabhängig¬
keit bis auf die neueste Zeit 1869" entnehmen. Richthofen war schon 1859
der Meinung, daß eine durchgreifende Heilung von innen heraus bei der
Schlaffheit der Bevölkerung und dem überall verbreiteten Mangel an Ge¬
meinsinn kaum zu hoffen sei und daß eine gründliche Umgestaltung der
öffentlichen Zustände nur noch von außen her erwartet werden könne: eine
Ansicht, die auch von vielen angesehenen Mexicanern, nicht blos den Clericalen,
die später bet der Kaisertragödie mitgewirkt haben, sondern von den tüch¬
tigsten Patrioten getheilt wurde. Seitdem berechtigte Juarez' kräftige Ver¬
waltung zu besseren Hoffnungen; aber seine Wirksamkeit wurde durch das
Intermezzo der Occupation unterbrochen.

Zu diesen inneren Leiden kam die von Norden her beständig drohende
äußere Gefahr. Als die nach Westen und Süden vorschreitende Kolonisation
des nordamerikanischen Continents sich bis an die Grenzen Mexicos ausge¬
dehnt hatte, begannen sofort die Uebergriffe der nordamerikanischen Aben¬
teurer, der rastlos ins Weite strebenden Pioniere der Civilisation. Mexikani¬
sches Gebiet wurde besetzt, amerikanisirt, thatsächlich annectirt, und der Con-
greß war damals immer geneigt, so erfreulichen Thatsachen seine Sanciion
zu geben. Das Ergebniß der aus diesen Grenzfehden sich entwickelnden
Kriege, in denen das Recht fast immer auf Seiten Mexicos stand, war die
Einverleibung der größeren Hälfte der Vereinigten Staaten von Mexico in
das große angelsächsische Reich; und wie durch ein Wunder verwandelten sich
spärlich bevölkerte Steppen, deren vereinzelte Culturöasen sich nur mit Mühe
gegen die Angriffe umherschweifender Jndianerhorden behaupten konnten, in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/365>, abgerufen am 26.06.2024.