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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Befreiung vom unerträglich gewordenen Joche des Mutterlandes. Aber
kaum war die Unabhängigkeit erkämpft, so versank der öffentliche Geist leider
schon wieder in die alte Schlaffheit. Ueberall die freiesten republikanischen
Staatsformen, aber nirgends ein Funke republikanischen Gemeinsinns; nir¬
gends eine Spur der sittlichen Zucht und politischen Einsicht, des frischen
schöpferischen Thätigkeitstriebes, der Hingebung an das Vaterland, durch die
das angelsächsische Nordamerika trotz zahlreicher Gebrechen, die man keines¬
wegs alle als Jugeudeseleien des jungen Riesen bezeichnen kann, in kurzer
Zeit sich zu einer Weltmacht emporgeschwungen und die Kraft gewonnen
hat, eine furchtbare innere Krisis zu überstehen!

Statt dieses kräftigen Staatssinns, statt des sicheren Tantes, mit dem
der Genius des anglosächsischen (und fügen wir hinzu, nach einer Zeit ver-
hängnißvoller Irrungen und Mißbildungen, des ganzen germanischen Stam¬
mes) die Grenzlinie zwischen der Willensfreiheit des Individuums und den
Anforderungen der Staatsgemeinschaft zu ziehen und die Ausgleichung
zwischen Staat und Gesellschaft in beständigem Fluß, in fortschreiten¬
der lebendiger Entwickelung zu halten weiß, finden wir bei den Völkern
romanischen Stammes ein ruheloses Schwanken zwischen den äußersten
Gegensätzen. Ein zielloser, für die Betrachtung ermüdender, die Kräfte der
Einzelnen wie der Massen nutzlos aufreibender Kampf zwischen Anarchie
und Militärdespotismus, die Revolution in Permanenz, der Staat ein
Spielball grundsatz- und gewissenloser Parteiführer und Generale; heut eine
Verwaltung, die nichts vermag, weil ihr Niemand gehorcht, morgen die
Herrschaft eines demagogischen Gewalthabers, der außer seinem Willen keine
Schranke kennt und dem sein Vortheil das höchste, das einzige Gesetz ist;
die Massen in Aberglauben und Unwissenheit versunken, willenlos dem Ein¬
flüsse einer reichen, herrschsüchtigen und unwissenden Geistlichkeit hingegeben;
die Glieder der höheren Classen ungebildet, trotz großen Grundbesitzes meist
in zerrütteten Vermögensverhältnissen lebend, dabei jede anhaltende An¬
strengung verabscheuend, jede erwerbliche Thätigkeit verachtend, Verschwörer
von Beruf, nicht nur weil die politische Intrigue für sie die einzige erträg¬
liche Unterbrechung des äolee tar inerte ist, sondern auch, weil jede gelungene
Revolution ihnen einträgliche Sinecuren in den Schoß wirft und ihnen die
willkommene Gelegenheit bietet, durch Aechtung ihrer Gläubiger und Plün¬
derung der öffentlichen Cassen auf die leichteste Weise zu Reichthum und da¬
durch zu Ansehn zu gelangen, wahre catilinarische Existenzen! -- Ein einziger
unter allen diesen Staaten hatte ein festes Gefüge, das despotisch, aber bis
auf einen gewissen Punkt aufgeklärt regierte Paraguay; gewiß kein Muster¬
staat, aber doch ein Staat, der einer Entwickelung von der fast unbedingten
Gebundenheit des Individuums zur Freiheit fähig gewesen wäre, und als


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Befreiung vom unerträglich gewordenen Joche des Mutterlandes. Aber
kaum war die Unabhängigkeit erkämpft, so versank der öffentliche Geist leider
schon wieder in die alte Schlaffheit. Ueberall die freiesten republikanischen
Staatsformen, aber nirgends ein Funke republikanischen Gemeinsinns; nir¬
gends eine Spur der sittlichen Zucht und politischen Einsicht, des frischen
schöpferischen Thätigkeitstriebes, der Hingebung an das Vaterland, durch die
das angelsächsische Nordamerika trotz zahlreicher Gebrechen, die man keines¬
wegs alle als Jugeudeseleien des jungen Riesen bezeichnen kann, in kurzer
Zeit sich zu einer Weltmacht emporgeschwungen und die Kraft gewonnen
hat, eine furchtbare innere Krisis zu überstehen!

Statt dieses kräftigen Staatssinns, statt des sicheren Tantes, mit dem
der Genius des anglosächsischen (und fügen wir hinzu, nach einer Zeit ver-
hängnißvoller Irrungen und Mißbildungen, des ganzen germanischen Stam¬
mes) die Grenzlinie zwischen der Willensfreiheit des Individuums und den
Anforderungen der Staatsgemeinschaft zu ziehen und die Ausgleichung
zwischen Staat und Gesellschaft in beständigem Fluß, in fortschreiten¬
der lebendiger Entwickelung zu halten weiß, finden wir bei den Völkern
romanischen Stammes ein ruheloses Schwanken zwischen den äußersten
Gegensätzen. Ein zielloser, für die Betrachtung ermüdender, die Kräfte der
Einzelnen wie der Massen nutzlos aufreibender Kampf zwischen Anarchie
und Militärdespotismus, die Revolution in Permanenz, der Staat ein
Spielball grundsatz- und gewissenloser Parteiführer und Generale; heut eine
Verwaltung, die nichts vermag, weil ihr Niemand gehorcht, morgen die
Herrschaft eines demagogischen Gewalthabers, der außer seinem Willen keine
Schranke kennt und dem sein Vortheil das höchste, das einzige Gesetz ist;
die Massen in Aberglauben und Unwissenheit versunken, willenlos dem Ein¬
flüsse einer reichen, herrschsüchtigen und unwissenden Geistlichkeit hingegeben;
die Glieder der höheren Classen ungebildet, trotz großen Grundbesitzes meist
in zerrütteten Vermögensverhältnissen lebend, dabei jede anhaltende An¬
strengung verabscheuend, jede erwerbliche Thätigkeit verachtend, Verschwörer
von Beruf, nicht nur weil die politische Intrigue für sie die einzige erträg¬
liche Unterbrechung des äolee tar inerte ist, sondern auch, weil jede gelungene
Revolution ihnen einträgliche Sinecuren in den Schoß wirft und ihnen die
willkommene Gelegenheit bietet, durch Aechtung ihrer Gläubiger und Plün¬
derung der öffentlichen Cassen auf die leichteste Weise zu Reichthum und da¬
durch zu Ansehn zu gelangen, wahre catilinarische Existenzen! — Ein einziger
unter allen diesen Staaten hatte ein festes Gefüge, das despotisch, aber bis
auf einen gewissen Punkt aufgeklärt regierte Paraguay; gewiß kein Muster¬
staat, aber doch ein Staat, der einer Entwickelung von der fast unbedingten
Gebundenheit des Individuums zur Freiheit fähig gewesen wäre, und als


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[0363] Befreiung vom unerträglich gewordenen Joche des Mutterlandes. Aber kaum war die Unabhängigkeit erkämpft, so versank der öffentliche Geist leider schon wieder in die alte Schlaffheit. Ueberall die freiesten republikanischen Staatsformen, aber nirgends ein Funke republikanischen Gemeinsinns; nir¬ gends eine Spur der sittlichen Zucht und politischen Einsicht, des frischen schöpferischen Thätigkeitstriebes, der Hingebung an das Vaterland, durch die das angelsächsische Nordamerika trotz zahlreicher Gebrechen, die man keines¬ wegs alle als Jugeudeseleien des jungen Riesen bezeichnen kann, in kurzer Zeit sich zu einer Weltmacht emporgeschwungen und die Kraft gewonnen hat, eine furchtbare innere Krisis zu überstehen! Statt dieses kräftigen Staatssinns, statt des sicheren Tantes, mit dem der Genius des anglosächsischen (und fügen wir hinzu, nach einer Zeit ver- hängnißvoller Irrungen und Mißbildungen, des ganzen germanischen Stam¬ mes) die Grenzlinie zwischen der Willensfreiheit des Individuums und den Anforderungen der Staatsgemeinschaft zu ziehen und die Ausgleichung zwischen Staat und Gesellschaft in beständigem Fluß, in fortschreiten¬ der lebendiger Entwickelung zu halten weiß, finden wir bei den Völkern romanischen Stammes ein ruheloses Schwanken zwischen den äußersten Gegensätzen. Ein zielloser, für die Betrachtung ermüdender, die Kräfte der Einzelnen wie der Massen nutzlos aufreibender Kampf zwischen Anarchie und Militärdespotismus, die Revolution in Permanenz, der Staat ein Spielball grundsatz- und gewissenloser Parteiführer und Generale; heut eine Verwaltung, die nichts vermag, weil ihr Niemand gehorcht, morgen die Herrschaft eines demagogischen Gewalthabers, der außer seinem Willen keine Schranke kennt und dem sein Vortheil das höchste, das einzige Gesetz ist; die Massen in Aberglauben und Unwissenheit versunken, willenlos dem Ein¬ flüsse einer reichen, herrschsüchtigen und unwissenden Geistlichkeit hingegeben; die Glieder der höheren Classen ungebildet, trotz großen Grundbesitzes meist in zerrütteten Vermögensverhältnissen lebend, dabei jede anhaltende An¬ strengung verabscheuend, jede erwerbliche Thätigkeit verachtend, Verschwörer von Beruf, nicht nur weil die politische Intrigue für sie die einzige erträg¬ liche Unterbrechung des äolee tar inerte ist, sondern auch, weil jede gelungene Revolution ihnen einträgliche Sinecuren in den Schoß wirft und ihnen die willkommene Gelegenheit bietet, durch Aechtung ihrer Gläubiger und Plün¬ derung der öffentlichen Cassen auf die leichteste Weise zu Reichthum und da¬ durch zu Ansehn zu gelangen, wahre catilinarische Existenzen! — Ein einziger unter allen diesen Staaten hatte ein festes Gefüge, das despotisch, aber bis auf einen gewissen Punkt aufgeklärt regierte Paraguay; gewiß kein Muster¬ staat, aber doch ein Staat, der einer Entwickelung von der fast unbedingten Gebundenheit des Individuums zur Freiheit fähig gewesen wäre, und als 46*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/363>, abgerufen am 26.06.2024.