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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Masse des Volkes noch nicht die Herrschaft hat. Doch diese Verhältnisse
fordern eingehendere Besprechung. --

Als nach dem Tage von Wörth der Kronprinz den tödtlich verwunde¬
ten General Raoul besuchte und dieser seinen letzten Willen in die Hand
des begleitenden Adjutanten legte, sagte der höfliche Franzose: "Ich werde die
Meinen nicht wiedersehen, mein bester Trost ist, daß ich ende durch ein Heer
? von solcher Tapferkeit."




Berliner Briefe.
IV.

Die Zeit der lebendigsten Erregung ist, wie es nicht anders sein konnte,
wieder abgelöst worden durch eine Woche verhältnißmäßiger Ruhe. Wir
hatten zwar die Besinnung keinen Augenblick vor Freuden verloren, das
zähflüssige deutsche Blut, das unsere radicalen Agitatoren während der Jahre
des Verfassungsstreites,. die nun wie ein Traum hinter uns liegen, so oft
und so herzlich verwünscht haben -- am wenigsten durch die Gefühle siegesstolzer
Ueberhebung läßt es sich in Wallungen versetzen; wer sich Abends vorm
Rausche hütet, der spart des Morgens das kahle Bewußtsein der Ernüchte¬
rung. Trotzdem kann man sagen, daß unsere Stimmung aus dem Stadium
der Empfindung in das des Nachdenkens getreten sei. Wie zum Abbilde
dessen schlug auch das Wetter um, kühlere, regnerische Tage, feuchte Abende
zwangen die Leute mehr unter Dach und Fach; an die Stelle des Jubels
und der Gesänge trat das vernünftige Gespräch; die Sorge um das Wohl
des Vaterlandes, deren man sich mit Recht enthoben glauben konnte, machte
der individuellen Sorge um die Angehörigen draußen im Felde Platz; zuletzt
hat auch die Trauer in manche Wohnung ihren stillen Einzug gehalten.

Was zuvörderst und vornehmlich die Aufmerksamkeit beschäftigte, waren
die Nachrichten aus Paris über den Eindruck unserer Siege. Eigentlich über¬
raschend kam uns diese aufgeregte Niedergeschlagenheit nicht. Im Gegentheil,
viele Abendpolitiker schwelgten in der Erfüllung ihrer Prophezeihungen und
zogen mit neuen Verkündigungen unerschrocken ins Feld, viel zu rasch, wie
sich bald zeigen sollte. Sie fühlten dem bonapartischen Kaise'thume den
Puls und zählten ihm die Frist seines Lebens stundenweise zu. Daß man
drüben zwar noch Phrasen über Gegenwart und Zukunft, aber nicht die alten
tapferen Lügen über das Geschehene mehr vorzubringen wußte, machte unsere


Masse des Volkes noch nicht die Herrschaft hat. Doch diese Verhältnisse
fordern eingehendere Besprechung. —

Als nach dem Tage von Wörth der Kronprinz den tödtlich verwunde¬
ten General Raoul besuchte und dieser seinen letzten Willen in die Hand
des begleitenden Adjutanten legte, sagte der höfliche Franzose: „Ich werde die
Meinen nicht wiedersehen, mein bester Trost ist, daß ich ende durch ein Heer
? von solcher Tapferkeit."




Berliner Briefe.
IV.

Die Zeit der lebendigsten Erregung ist, wie es nicht anders sein konnte,
wieder abgelöst worden durch eine Woche verhältnißmäßiger Ruhe. Wir
hatten zwar die Besinnung keinen Augenblick vor Freuden verloren, das
zähflüssige deutsche Blut, das unsere radicalen Agitatoren während der Jahre
des Verfassungsstreites,. die nun wie ein Traum hinter uns liegen, so oft
und so herzlich verwünscht haben — am wenigsten durch die Gefühle siegesstolzer
Ueberhebung läßt es sich in Wallungen versetzen; wer sich Abends vorm
Rausche hütet, der spart des Morgens das kahle Bewußtsein der Ernüchte¬
rung. Trotzdem kann man sagen, daß unsere Stimmung aus dem Stadium
der Empfindung in das des Nachdenkens getreten sei. Wie zum Abbilde
dessen schlug auch das Wetter um, kühlere, regnerische Tage, feuchte Abende
zwangen die Leute mehr unter Dach und Fach; an die Stelle des Jubels
und der Gesänge trat das vernünftige Gespräch; die Sorge um das Wohl
des Vaterlandes, deren man sich mit Recht enthoben glauben konnte, machte
der individuellen Sorge um die Angehörigen draußen im Felde Platz; zuletzt
hat auch die Trauer in manche Wohnung ihren stillen Einzug gehalten.

Was zuvörderst und vornehmlich die Aufmerksamkeit beschäftigte, waren
die Nachrichten aus Paris über den Eindruck unserer Siege. Eigentlich über¬
raschend kam uns diese aufgeregte Niedergeschlagenheit nicht. Im Gegentheil,
viele Abendpolitiker schwelgten in der Erfüllung ihrer Prophezeihungen und
zogen mit neuen Verkündigungen unerschrocken ins Feld, viel zu rasch, wie
sich bald zeigen sollte. Sie fühlten dem bonapartischen Kaise'thume den
Puls und zählten ihm die Frist seines Lebens stundenweise zu. Daß man
drüben zwar noch Phrasen über Gegenwart und Zukunft, aber nicht die alten
tapferen Lügen über das Geschehene mehr vorzubringen wußte, machte unsere


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[0332] Masse des Volkes noch nicht die Herrschaft hat. Doch diese Verhältnisse fordern eingehendere Besprechung. — Als nach dem Tage von Wörth der Kronprinz den tödtlich verwunde¬ ten General Raoul besuchte und dieser seinen letzten Willen in die Hand des begleitenden Adjutanten legte, sagte der höfliche Franzose: „Ich werde die Meinen nicht wiedersehen, mein bester Trost ist, daß ich ende durch ein Heer ? von solcher Tapferkeit." Berliner Briefe. IV. Die Zeit der lebendigsten Erregung ist, wie es nicht anders sein konnte, wieder abgelöst worden durch eine Woche verhältnißmäßiger Ruhe. Wir hatten zwar die Besinnung keinen Augenblick vor Freuden verloren, das zähflüssige deutsche Blut, das unsere radicalen Agitatoren während der Jahre des Verfassungsstreites,. die nun wie ein Traum hinter uns liegen, so oft und so herzlich verwünscht haben — am wenigsten durch die Gefühle siegesstolzer Ueberhebung läßt es sich in Wallungen versetzen; wer sich Abends vorm Rausche hütet, der spart des Morgens das kahle Bewußtsein der Ernüchte¬ rung. Trotzdem kann man sagen, daß unsere Stimmung aus dem Stadium der Empfindung in das des Nachdenkens getreten sei. Wie zum Abbilde dessen schlug auch das Wetter um, kühlere, regnerische Tage, feuchte Abende zwangen die Leute mehr unter Dach und Fach; an die Stelle des Jubels und der Gesänge trat das vernünftige Gespräch; die Sorge um das Wohl des Vaterlandes, deren man sich mit Recht enthoben glauben konnte, machte der individuellen Sorge um die Angehörigen draußen im Felde Platz; zuletzt hat auch die Trauer in manche Wohnung ihren stillen Einzug gehalten. Was zuvörderst und vornehmlich die Aufmerksamkeit beschäftigte, waren die Nachrichten aus Paris über den Eindruck unserer Siege. Eigentlich über¬ raschend kam uns diese aufgeregte Niedergeschlagenheit nicht. Im Gegentheil, viele Abendpolitiker schwelgten in der Erfüllung ihrer Prophezeihungen und zogen mit neuen Verkündigungen unerschrocken ins Feld, viel zu rasch, wie sich bald zeigen sollte. Sie fühlten dem bonapartischen Kaise'thume den Puls und zählten ihm die Frist seines Lebens stundenweise zu. Daß man drüben zwar noch Phrasen über Gegenwart und Zukunft, aber nicht die alten tapferen Lügen über das Geschehene mehr vorzubringen wußte, machte unsere

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/332>, abgerufen am 26.06.2024.