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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Corps schon vorausgezogen war. Sonntag wurden die letzten auf dem Pots¬
damer Bahnhofe "eingeschifft"; mit klingendem Spiele, schnell, fast ungeduldig
zogen sie durch die Straßen, von manchem hier erworbenen Freunde beglei¬
tet; ich mußte lächeln, wie ich Offenbach's frivole, tänzelnde Melodien er¬
kannte, die ihnen den Tact zum Marsche nach Frankreich angaben. Die
Dragoner führten hinter sich große Bündel Heu auf den Pferden, um
die wackeren Thiere auf der langen unbehaglichen Fahrt nach Köln zu
erquicken. --

Mittwoch Abend wurden die ersten amtlichen Nachrichten vom Kriegs¬
schauplatze angeschlagen. Sie meldeten die Räumung Saarbrückens durch
unsere Vorposten, die Beschießung und Besetzung der Stadt durch den Feind.
Es darf nicht Wunder nehmen, daß ein großer Theil unserer Bevölkerung
darüber doch erschrak. Von strategischer Nothwendigkeit will dem gemeinen
Manne nichts einleuchten; "deutscher Boden," das ist ihm verständlich. Man
setzte keinen Zweifel in die Angaben über die geringe Zahl und die tapfere
Haltung der Unseren, aber gerade die frühere thörichte Depesche von einem
angeblichen großen Angriffe auf die Stadt, der abgeschlagen sei / hatte ganz
andere Erwartungen rege gemacht. Bald durchschaute man wohl die kläglich
theateralische Absicht des Feindes, aber bei den Vorstellungen, welche die
Franzosen selbst über den Grad ihrer Humanität in uns erweckt hatten, blieb
doch den Meisten das Gefühl: "lieber nicht!" Um so begieriger harrte
man auf Lebenszeichen von unseren Hauptarmeen, über deren Stellungen
mittlerweile doch einige halbrichtige Kunde ins allgemeine Gespräch ge¬
drungen war.

Des anderen Tages, am Donnerstag, durchflogen Gerüchte von einem
großen und trophäenreichen Siege Prinz Friedrich Karls die Stadt; selbst
Offiziere erzählten sie, ja sie wuchsen dermaßen an Sicherheit, daß in dem
überfüllten Concert im zoologischen Garten der alte Wieprecht sie unter un¬
geheurem Jubel vom Dirigentenpult herunter verkündigte. Hymnen und
Fanfaren folgten, bis endlich einige Generalsstabsoffiziere sehr ernst und un¬
willig das leichtsinnige Gerücht zerstörten. Man kann nicht sagen, welche
Stimmung sich da unserer Stadt bemächtigt hätte, wäre nicht zur Erlösung
die frohe Botschaft von Weißenburg erschienen. Wie ein Waldbrand flog
sie durch die Stadt. Es war gegen neun Uhr Abends; vor dem Palais
des Königs, zu den Füßen Friedrichs des Großen, strömten die Menschen
zusammen; die Königin zeigte sich und winkte frohdankend mit dem Tuche.
"Vorlesen, vorlesen!" bat die Menge. Ein Offizier trat auf die Rampe
zwischen den Säulen; beim Scheine einer Petroleumlampe verlas er die
Depesche; man konnte sich nicht satt daran hören. Viele stürzten hinweg,
während sich neue Massen herzudrängten; jeder wollte zuerst den Seinen the


Corps schon vorausgezogen war. Sonntag wurden die letzten auf dem Pots¬
damer Bahnhofe „eingeschifft"; mit klingendem Spiele, schnell, fast ungeduldig
zogen sie durch die Straßen, von manchem hier erworbenen Freunde beglei¬
tet; ich mußte lächeln, wie ich Offenbach's frivole, tänzelnde Melodien er¬
kannte, die ihnen den Tact zum Marsche nach Frankreich angaben. Die
Dragoner führten hinter sich große Bündel Heu auf den Pferden, um
die wackeren Thiere auf der langen unbehaglichen Fahrt nach Köln zu
erquicken. —

Mittwoch Abend wurden die ersten amtlichen Nachrichten vom Kriegs¬
schauplatze angeschlagen. Sie meldeten die Räumung Saarbrückens durch
unsere Vorposten, die Beschießung und Besetzung der Stadt durch den Feind.
Es darf nicht Wunder nehmen, daß ein großer Theil unserer Bevölkerung
darüber doch erschrak. Von strategischer Nothwendigkeit will dem gemeinen
Manne nichts einleuchten; „deutscher Boden," das ist ihm verständlich. Man
setzte keinen Zweifel in die Angaben über die geringe Zahl und die tapfere
Haltung der Unseren, aber gerade die frühere thörichte Depesche von einem
angeblichen großen Angriffe auf die Stadt, der abgeschlagen sei / hatte ganz
andere Erwartungen rege gemacht. Bald durchschaute man wohl die kläglich
theateralische Absicht des Feindes, aber bei den Vorstellungen, welche die
Franzosen selbst über den Grad ihrer Humanität in uns erweckt hatten, blieb
doch den Meisten das Gefühl: „lieber nicht!" Um so begieriger harrte
man auf Lebenszeichen von unseren Hauptarmeen, über deren Stellungen
mittlerweile doch einige halbrichtige Kunde ins allgemeine Gespräch ge¬
drungen war.

Des anderen Tages, am Donnerstag, durchflogen Gerüchte von einem
großen und trophäenreichen Siege Prinz Friedrich Karls die Stadt; selbst
Offiziere erzählten sie, ja sie wuchsen dermaßen an Sicherheit, daß in dem
überfüllten Concert im zoologischen Garten der alte Wieprecht sie unter un¬
geheurem Jubel vom Dirigentenpult herunter verkündigte. Hymnen und
Fanfaren folgten, bis endlich einige Generalsstabsoffiziere sehr ernst und un¬
willig das leichtsinnige Gerücht zerstörten. Man kann nicht sagen, welche
Stimmung sich da unserer Stadt bemächtigt hätte, wäre nicht zur Erlösung
die frohe Botschaft von Weißenburg erschienen. Wie ein Waldbrand flog
sie durch die Stadt. Es war gegen neun Uhr Abends; vor dem Palais
des Königs, zu den Füßen Friedrichs des Großen, strömten die Menschen
zusammen; die Königin zeigte sich und winkte frohdankend mit dem Tuche.
„Vorlesen, vorlesen!" bat die Menge. Ein Offizier trat auf die Rampe
zwischen den Säulen; beim Scheine einer Petroleumlampe verlas er die
Depesche; man konnte sich nicht satt daran hören. Viele stürzten hinweg,
während sich neue Massen herzudrängten; jeder wollte zuerst den Seinen the


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[0293] Corps schon vorausgezogen war. Sonntag wurden die letzten auf dem Pots¬ damer Bahnhofe „eingeschifft"; mit klingendem Spiele, schnell, fast ungeduldig zogen sie durch die Straßen, von manchem hier erworbenen Freunde beglei¬ tet; ich mußte lächeln, wie ich Offenbach's frivole, tänzelnde Melodien er¬ kannte, die ihnen den Tact zum Marsche nach Frankreich angaben. Die Dragoner führten hinter sich große Bündel Heu auf den Pferden, um die wackeren Thiere auf der langen unbehaglichen Fahrt nach Köln zu erquicken. — Mittwoch Abend wurden die ersten amtlichen Nachrichten vom Kriegs¬ schauplatze angeschlagen. Sie meldeten die Räumung Saarbrückens durch unsere Vorposten, die Beschießung und Besetzung der Stadt durch den Feind. Es darf nicht Wunder nehmen, daß ein großer Theil unserer Bevölkerung darüber doch erschrak. Von strategischer Nothwendigkeit will dem gemeinen Manne nichts einleuchten; „deutscher Boden," das ist ihm verständlich. Man setzte keinen Zweifel in die Angaben über die geringe Zahl und die tapfere Haltung der Unseren, aber gerade die frühere thörichte Depesche von einem angeblichen großen Angriffe auf die Stadt, der abgeschlagen sei / hatte ganz andere Erwartungen rege gemacht. Bald durchschaute man wohl die kläglich theateralische Absicht des Feindes, aber bei den Vorstellungen, welche die Franzosen selbst über den Grad ihrer Humanität in uns erweckt hatten, blieb doch den Meisten das Gefühl: „lieber nicht!" Um so begieriger harrte man auf Lebenszeichen von unseren Hauptarmeen, über deren Stellungen mittlerweile doch einige halbrichtige Kunde ins allgemeine Gespräch ge¬ drungen war. Des anderen Tages, am Donnerstag, durchflogen Gerüchte von einem großen und trophäenreichen Siege Prinz Friedrich Karls die Stadt; selbst Offiziere erzählten sie, ja sie wuchsen dermaßen an Sicherheit, daß in dem überfüllten Concert im zoologischen Garten der alte Wieprecht sie unter un¬ geheurem Jubel vom Dirigentenpult herunter verkündigte. Hymnen und Fanfaren folgten, bis endlich einige Generalsstabsoffiziere sehr ernst und un¬ willig das leichtsinnige Gerücht zerstörten. Man kann nicht sagen, welche Stimmung sich da unserer Stadt bemächtigt hätte, wäre nicht zur Erlösung die frohe Botschaft von Weißenburg erschienen. Wie ein Waldbrand flog sie durch die Stadt. Es war gegen neun Uhr Abends; vor dem Palais des Königs, zu den Füßen Friedrichs des Großen, strömten die Menschen zusammen; die Königin zeigte sich und winkte frohdankend mit dem Tuche. „Vorlesen, vorlesen!" bat die Menge. Ein Offizier trat auf die Rampe zwischen den Säulen; beim Scheine einer Petroleumlampe verlas er die Depesche; man konnte sich nicht satt daran hören. Viele stürzten hinweg, während sich neue Massen herzudrängten; jeder wollte zuerst den Seinen the

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/293>, abgerufen am 26.06.2024.