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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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chere Handhabe als sie kürzlich Louts Napoleon in der spanischen Thronfrage
gefunden. Nach August des Starken Tode ergriff in diesem Streite Oestreich
mit Rußland Partei für den Sohn des Verstorbenen, den sächsischen Kur¬
fürsten Friedrich August II. Die Gegenpartei unter den polnischen Großen
hatte jenen Stanislaus Lescinsky als König ausgerufen, welcher schon ein¬
mal, auf Betrieb des Schwedenkönigs Karl XII. im Kampfe gegen August
den Starken, auf den Thron erhoben und d.rum nach der Niederlage
seines Förderers und Beschützers in der Verbannung zum Schwieger¬
vater des französischen Königs Ludwigs XV. geworden war. Durch
das Auftreten Oestreichs gegen Stanislaus erklärte sich Ludwig XV. verletzt
und erhob Krieg; England und Holland hielten sich zurück. Die polnische
Frage selbst wurde unter dem Uebergewichte, welches die Vereinigung russi¬
scher, östreichischer, sächsischer Einflüsse und Kräfte im Osten ausübte, gegen
den französischen Schützling entschieden; im Westen aber war Oestreich, ge¬
genüber Frankreich, Spanien und ihren italienischen Bundesgenossen, fast
ganz isolirt. Ueberdieß auch im Innern schlecht vorbereitet, erlitt es Verlust
über Verlust, und selbst die Niederlage, die Ludwigs XV. Schwiegervater im
Osten traf, wußte Fleury im Westen zu einem stattlichen Gewinne für
Frankreich zu wenden. Die Wiener Friedenspräliminarien (173S) setzten fest:
Lothringen habe, als Entschädigung für die polnischen Thronaussichten, an
den Schwiegervater des französischen Königs zu fallen, der künftige Schwieger¬
sohn des römisch-deutschen Kaisers dagegen bei dem nahe bevorstehenden Aus¬
sterben des Medicciischen Hauses das alsdann erledigte Toscana dahinzu-
nehmen; nach Stanislaus' Tode aber sollte Lothringen den
Ländern der französischen Krone einverleibt werden. Daß
die letztere aus Sitz und Stimme im deutschen Reichstage förmlich verzichtete,
hieß nichts anderes als eine recht ausdrückliche Aushebung des Verbandes,
in welchem Lothringen, der Idee nach, zum deutschen Reiche noch gestanden.

Nur schwer trennte sich die lothringische Bevölkerung von ihrem alten
herzoglichen Hause; nicht minder schwer soll Franz Joseph sich dazu ent¬
schlossen haben, das Erbe der Väter gegen ein neues Besitztum dahinzu¬
gehen. Das deutsche Reich fand keine Veranlassung oder Möglichkeit, gegen
denjenigen Theil der Abmachung, von welchem es berührt wurde, sich zu er¬
heben. Der Reichstag ratisicirte die Präliminarien, welche, infolge besonderer
Umstände etwas spät, durch den Wiener Friedenstractat von 1738, zu defi¬
nitiver Geltung gelangten.

Lothringen hat von da an bis zum Jahre 1766 an dem gutmüthigen
und nicht einsichtslosen Stanislaus Lescinsky einen väterlich wohlmeinenden
Regenten gehabt. Seit 1766 sind seine Geschicke mit denen Frankreichs zu¬
sammengegangen.


chere Handhabe als sie kürzlich Louts Napoleon in der spanischen Thronfrage
gefunden. Nach August des Starken Tode ergriff in diesem Streite Oestreich
mit Rußland Partei für den Sohn des Verstorbenen, den sächsischen Kur¬
fürsten Friedrich August II. Die Gegenpartei unter den polnischen Großen
hatte jenen Stanislaus Lescinsky als König ausgerufen, welcher schon ein¬
mal, auf Betrieb des Schwedenkönigs Karl XII. im Kampfe gegen August
den Starken, auf den Thron erhoben und d.rum nach der Niederlage
seines Förderers und Beschützers in der Verbannung zum Schwieger¬
vater des französischen Königs Ludwigs XV. geworden war. Durch
das Auftreten Oestreichs gegen Stanislaus erklärte sich Ludwig XV. verletzt
und erhob Krieg; England und Holland hielten sich zurück. Die polnische
Frage selbst wurde unter dem Uebergewichte, welches die Vereinigung russi¬
scher, östreichischer, sächsischer Einflüsse und Kräfte im Osten ausübte, gegen
den französischen Schützling entschieden; im Westen aber war Oestreich, ge¬
genüber Frankreich, Spanien und ihren italienischen Bundesgenossen, fast
ganz isolirt. Ueberdieß auch im Innern schlecht vorbereitet, erlitt es Verlust
über Verlust, und selbst die Niederlage, die Ludwigs XV. Schwiegervater im
Osten traf, wußte Fleury im Westen zu einem stattlichen Gewinne für
Frankreich zu wenden. Die Wiener Friedenspräliminarien (173S) setzten fest:
Lothringen habe, als Entschädigung für die polnischen Thronaussichten, an
den Schwiegervater des französischen Königs zu fallen, der künftige Schwieger¬
sohn des römisch-deutschen Kaisers dagegen bei dem nahe bevorstehenden Aus¬
sterben des Medicciischen Hauses das alsdann erledigte Toscana dahinzu-
nehmen; nach Stanislaus' Tode aber sollte Lothringen den
Ländern der französischen Krone einverleibt werden. Daß
die letztere aus Sitz und Stimme im deutschen Reichstage förmlich verzichtete,
hieß nichts anderes als eine recht ausdrückliche Aushebung des Verbandes,
in welchem Lothringen, der Idee nach, zum deutschen Reiche noch gestanden.

Nur schwer trennte sich die lothringische Bevölkerung von ihrem alten
herzoglichen Hause; nicht minder schwer soll Franz Joseph sich dazu ent¬
schlossen haben, das Erbe der Väter gegen ein neues Besitztum dahinzu¬
gehen. Das deutsche Reich fand keine Veranlassung oder Möglichkeit, gegen
denjenigen Theil der Abmachung, von welchem es berührt wurde, sich zu er¬
heben. Der Reichstag ratisicirte die Präliminarien, welche, infolge besonderer
Umstände etwas spät, durch den Wiener Friedenstractat von 1738, zu defi¬
nitiver Geltung gelangten.

Lothringen hat von da an bis zum Jahre 1766 an dem gutmüthigen
und nicht einsichtslosen Stanislaus Lescinsky einen väterlich wohlmeinenden
Regenten gehabt. Seit 1766 sind seine Geschicke mit denen Frankreichs zu¬
sammengegangen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/287>, abgerufen am 26.06.2024.