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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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gemeinen Sprachgebrauch gekommen seit König Lothar II., mag uns für
einen Augenblick noch höher hinaufführen zu dem Vater dieses Königs, zu
Lothar I. Bekanntlich wurde zu Verdun im Jahre 843, als man in der da¬
maligen Theilung des Karolingerreiches eine ostfränkische und eine westfrän¬
kische Herrschaft für die beiden jüngeren der theilenden Brüder ausschied (die
formalen Anfänge für das später deutsche und das französische Reich), ein
breiter Streifen Landes in der Mitte dem ältesten der drei Brüder, Lothar I.,
zu Italien und zu seinem Kaisernamen hinzugegeben. Was irgend späterhin,
in den verschiedensten Zeiten zwischen Frankreich und Deutschland, zum Theil
auch zwischen Frankreich und Italien Gegenstand des Streites und der Un¬
gewißheit gewesen ist, das war fast Alles in diesem breiten Streifen Landes
enthalten: das heutige Holland und der größte Theil des jetzigen Belgien,
sodann was jetzt auf dem linken Rheinufer zu Deutschland gehört, ferner
Lothringen in der neueren, verengten Bedeutung des Worts, der Elsaß, endlich
die Landschaften am Jura, an der Saone und Rhone bis zu dem Ausfluß
der letzteren in das mittelländische Meer. Sobald der Mannesstamm Lothars I.
ausgestorben, ward um seine Hinterlassenschaft gekämpft. Dabei behaupteten
nun wohl, bis ins dreizehnte Jahrhundert hinein, die deutschen Herrscher
ihren Anspruch mit besserem Glücke als die französischen. Aber bei der man¬
gelnden Fähigkeit des römisch-deutschen Reiches, sich kräftig zusammenzuhalten,
bröckelten weiterhin die meisten Stücke, zum Theil unmerklich, ab, bildeten
für sich, in halber oder ganzer Selbständigkeit, ein Ganzes oder schlössen sich
irgend einem anderen, freuven Ganzen an. Wir haben da, im 16. Jahr¬
hundert, an den Niederlanden und der Franche Comte' Besitzthümer der
Habsburger von der spanischen Linie vor uns, von deren Herrschaft sich in¬
deß bekanntlich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die nördlichen
Niederlande freimachten und zu einem republikanischen Föderativstaat gestal¬
teten *). Im Süden sind die Gebiete am Jura und an der oberen Rhone
für die schweizerische Eidgenossenschaft gewonnen, während Savoyens Schick¬
sale immer wesentlicher durch den Zusammenhang mit gewissen Landschaften
des nördlichen Italiens bedingt werden; das meiste Uebrige an Rhone und
Saone ist allmählig französische Provinz geworden. Was demnach vom ehe^
maligen Gebiete Lothar's I. bis um die Mitte des 16. Jahrhunderts bei
Deutschland geblieben, nimmt etwa die Mitte zwischen dem Norden und dem
Süden ein. Das linke Rheinufer des jetzigen Deutschland, damals vertheilt
unter eine Menge geistlicher und weltlicher Fürsten; sodann Lothringen in



*) Von der nomineller Reichsangehöriakeit der Niederlande und der Schweiz (bis zum west¬
fälischen Frieden; die spanischen, bez. östreichischen Niederlande wurden bekanntlich noch im von-
gen Jahrhundert officiell als Reichslande angesehen) hier Notiz zu nehmen, hielt ich nicht der
Mühe werth."
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gemeinen Sprachgebrauch gekommen seit König Lothar II., mag uns für
einen Augenblick noch höher hinaufführen zu dem Vater dieses Königs, zu
Lothar I. Bekanntlich wurde zu Verdun im Jahre 843, als man in der da¬
maligen Theilung des Karolingerreiches eine ostfränkische und eine westfrän¬
kische Herrschaft für die beiden jüngeren der theilenden Brüder ausschied (die
formalen Anfänge für das später deutsche und das französische Reich), ein
breiter Streifen Landes in der Mitte dem ältesten der drei Brüder, Lothar I.,
zu Italien und zu seinem Kaisernamen hinzugegeben. Was irgend späterhin,
in den verschiedensten Zeiten zwischen Frankreich und Deutschland, zum Theil
auch zwischen Frankreich und Italien Gegenstand des Streites und der Un¬
gewißheit gewesen ist, das war fast Alles in diesem breiten Streifen Landes
enthalten: das heutige Holland und der größte Theil des jetzigen Belgien,
sodann was jetzt auf dem linken Rheinufer zu Deutschland gehört, ferner
Lothringen in der neueren, verengten Bedeutung des Worts, der Elsaß, endlich
die Landschaften am Jura, an der Saone und Rhone bis zu dem Ausfluß
der letzteren in das mittelländische Meer. Sobald der Mannesstamm Lothars I.
ausgestorben, ward um seine Hinterlassenschaft gekämpft. Dabei behaupteten
nun wohl, bis ins dreizehnte Jahrhundert hinein, die deutschen Herrscher
ihren Anspruch mit besserem Glücke als die französischen. Aber bei der man¬
gelnden Fähigkeit des römisch-deutschen Reiches, sich kräftig zusammenzuhalten,
bröckelten weiterhin die meisten Stücke, zum Theil unmerklich, ab, bildeten
für sich, in halber oder ganzer Selbständigkeit, ein Ganzes oder schlössen sich
irgend einem anderen, freuven Ganzen an. Wir haben da, im 16. Jahr¬
hundert, an den Niederlanden und der Franche Comte' Besitzthümer der
Habsburger von der spanischen Linie vor uns, von deren Herrschaft sich in¬
deß bekanntlich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die nördlichen
Niederlande freimachten und zu einem republikanischen Föderativstaat gestal¬
teten *). Im Süden sind die Gebiete am Jura und an der oberen Rhone
für die schweizerische Eidgenossenschaft gewonnen, während Savoyens Schick¬
sale immer wesentlicher durch den Zusammenhang mit gewissen Landschaften
des nördlichen Italiens bedingt werden; das meiste Uebrige an Rhone und
Saone ist allmählig französische Provinz geworden. Was demnach vom ehe^
maligen Gebiete Lothar's I. bis um die Mitte des 16. Jahrhunderts bei
Deutschland geblieben, nimmt etwa die Mitte zwischen dem Norden und dem
Süden ein. Das linke Rheinufer des jetzigen Deutschland, damals vertheilt
unter eine Menge geistlicher und weltlicher Fürsten; sodann Lothringen in



*) Von der nomineller Reichsangehöriakeit der Niederlande und der Schweiz (bis zum west¬
fälischen Frieden; die spanischen, bez. östreichischen Niederlande wurden bekanntlich noch im von-
gen Jahrhundert officiell als Reichslande angesehen) hier Notiz zu nehmen, hielt ich nicht der
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[0275] gemeinen Sprachgebrauch gekommen seit König Lothar II., mag uns für einen Augenblick noch höher hinaufführen zu dem Vater dieses Königs, zu Lothar I. Bekanntlich wurde zu Verdun im Jahre 843, als man in der da¬ maligen Theilung des Karolingerreiches eine ostfränkische und eine westfrän¬ kische Herrschaft für die beiden jüngeren der theilenden Brüder ausschied (die formalen Anfänge für das später deutsche und das französische Reich), ein breiter Streifen Landes in der Mitte dem ältesten der drei Brüder, Lothar I., zu Italien und zu seinem Kaisernamen hinzugegeben. Was irgend späterhin, in den verschiedensten Zeiten zwischen Frankreich und Deutschland, zum Theil auch zwischen Frankreich und Italien Gegenstand des Streites und der Un¬ gewißheit gewesen ist, das war fast Alles in diesem breiten Streifen Landes enthalten: das heutige Holland und der größte Theil des jetzigen Belgien, sodann was jetzt auf dem linken Rheinufer zu Deutschland gehört, ferner Lothringen in der neueren, verengten Bedeutung des Worts, der Elsaß, endlich die Landschaften am Jura, an der Saone und Rhone bis zu dem Ausfluß der letzteren in das mittelländische Meer. Sobald der Mannesstamm Lothars I. ausgestorben, ward um seine Hinterlassenschaft gekämpft. Dabei behaupteten nun wohl, bis ins dreizehnte Jahrhundert hinein, die deutschen Herrscher ihren Anspruch mit besserem Glücke als die französischen. Aber bei der man¬ gelnden Fähigkeit des römisch-deutschen Reiches, sich kräftig zusammenzuhalten, bröckelten weiterhin die meisten Stücke, zum Theil unmerklich, ab, bildeten für sich, in halber oder ganzer Selbständigkeit, ein Ganzes oder schlössen sich irgend einem anderen, freuven Ganzen an. Wir haben da, im 16. Jahr¬ hundert, an den Niederlanden und der Franche Comte' Besitzthümer der Habsburger von der spanischen Linie vor uns, von deren Herrschaft sich in¬ deß bekanntlich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die nördlichen Niederlande freimachten und zu einem republikanischen Föderativstaat gestal¬ teten *). Im Süden sind die Gebiete am Jura und an der oberen Rhone für die schweizerische Eidgenossenschaft gewonnen, während Savoyens Schick¬ sale immer wesentlicher durch den Zusammenhang mit gewissen Landschaften des nördlichen Italiens bedingt werden; das meiste Uebrige an Rhone und Saone ist allmählig französische Provinz geworden. Was demnach vom ehe^ maligen Gebiete Lothar's I. bis um die Mitte des 16. Jahrhunderts bei Deutschland geblieben, nimmt etwa die Mitte zwischen dem Norden und dem Süden ein. Das linke Rheinufer des jetzigen Deutschland, damals vertheilt unter eine Menge geistlicher und weltlicher Fürsten; sodann Lothringen in *) Von der nomineller Reichsangehöriakeit der Niederlande und der Schweiz (bis zum west¬ fälischen Frieden; die spanischen, bez. östreichischen Niederlande wurden bekanntlich noch im von- gen Jahrhundert officiell als Reichslande angesehen) hier Notiz zu nehmen, hielt ich nicht der Mühe werth." 35

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/275>, abgerufen am 26.06.2024.