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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Interessen durch die Regierung gefährdet scheinen. Sie unterstützen jedes
System, jede Person, aber nur unter der Bedingung der Gegenseitigkeit,
nicht als Diener, sondern als Verbündete.

Die Katholiken hatten die Februarrevolution mit Freuden begrüßt, da
ihnen das Julikönigthum trotz mancher Begünstigungen, deren sie sich in
der letzten Zeit zu erfreuen gehabt hatten, doch immer für den incarnirten
Voltairismus galt, gegen den man stets auf der Hut sein müsse. In der
republikanischen Partei dagegen befanden sich einzelne Secten, die eine ge¬
wisse Verwandtschaft mit dem Katholicismus hatten, und vor Allem rech¬
neten die Klerikalen darauf, daß die republikanische Freiheit ihrem Einfluß
auf Schule und Unterricht zu Gute kommen werde. Veuillots Organ, der
Univers, hält der Monarchie folgende Leichenrede: "Unmoralisch unter Lud-
wig XIV., scandalös unter Ludwig XV., despotisch unter Napoleon,
unverständig bis 1830, hinterlistig, um nicht mehr zu sagen, bis 1848.
unterliegt die Monarchie unter der Last ihrer Fehler! Ganz Europa ist
auf dem Wege, republikanisch zu werden." Im Socialismus findet
Veuillot Spuren des Christenthums; er verlangt, daß der Staat die Socia¬
listen bei ihren Experimenten mit seinen Mitteln unterstütze. Das Recht des
Aufstandes ist ihm unter Umständen ein heiliges Recht. Er schwärmt für
jede Freiheit, Preßfreiheit, Coalitionsfreiheit, Gewissensfreiheit. Im Jahre
1850 ist der Univers zu der Erkenntniß gekommen, daß nur die Wiederher¬
stellung der Bourbonen die Ordnung verbürge, und wieder ein Jahr
später feiert er Napoleon als den Wiederhersteller der Gesellschaft und bietet
ihm neben seinen 400,000 Mann Soldaten den Beistand einer Armee von
40.000 Priestern und 60,000 Nonnen an.

Napoleon ließ sich den Beistand dieser Armee gefallen, weil er desselben
nicht mehr entbehren konnte. Aber mit einer Partei, für die ein Mensch
wie Veuillot das Wort führen konnte, war es schwer in dauerndem Ein¬
vernehmen zu bleiben. Die Regierung war bereit, in der Unterrichtsfrage
der Kirche bedeutende Zugeständnisse zu machen, die von den sogenannten
liberalen Katholiken, zu denen ein großer Theil des Episcopats gehörte und
an deren Spitze der Erzbischof von Paris, Sibour, stand, mit großer Be¬
friedigung aufgenommen wurden, nicht aber vom Univers, der jede Trans¬
action für ein Verbrechen erklärte. Nichts gleicht der Bosheit, mit welcher
der Univers jetzt über die liberalen Katholiken herfiel. Der Erzbischof von
Paris verbot das Blatt seinen Diöcesanen; auf den Befehl des Papstes muß
er das Verbot zurücknehmen. Damit war der Sieg des Ultramontanismus
über den freisinnigeren Theil der Katholiken entschieden, und Veuillot wurde
das gefürchtete Parteihaupt in Frankreich.

Für den Kaiser war dieser Sieg des Ultramontanismus höchst unange-


Interessen durch die Regierung gefährdet scheinen. Sie unterstützen jedes
System, jede Person, aber nur unter der Bedingung der Gegenseitigkeit,
nicht als Diener, sondern als Verbündete.

Die Katholiken hatten die Februarrevolution mit Freuden begrüßt, da
ihnen das Julikönigthum trotz mancher Begünstigungen, deren sie sich in
der letzten Zeit zu erfreuen gehabt hatten, doch immer für den incarnirten
Voltairismus galt, gegen den man stets auf der Hut sein müsse. In der
republikanischen Partei dagegen befanden sich einzelne Secten, die eine ge¬
wisse Verwandtschaft mit dem Katholicismus hatten, und vor Allem rech¬
neten die Klerikalen darauf, daß die republikanische Freiheit ihrem Einfluß
auf Schule und Unterricht zu Gute kommen werde. Veuillots Organ, der
Univers, hält der Monarchie folgende Leichenrede: „Unmoralisch unter Lud-
wig XIV., scandalös unter Ludwig XV., despotisch unter Napoleon,
unverständig bis 1830, hinterlistig, um nicht mehr zu sagen, bis 1848.
unterliegt die Monarchie unter der Last ihrer Fehler! Ganz Europa ist
auf dem Wege, republikanisch zu werden." Im Socialismus findet
Veuillot Spuren des Christenthums; er verlangt, daß der Staat die Socia¬
listen bei ihren Experimenten mit seinen Mitteln unterstütze. Das Recht des
Aufstandes ist ihm unter Umständen ein heiliges Recht. Er schwärmt für
jede Freiheit, Preßfreiheit, Coalitionsfreiheit, Gewissensfreiheit. Im Jahre
1850 ist der Univers zu der Erkenntniß gekommen, daß nur die Wiederher¬
stellung der Bourbonen die Ordnung verbürge, und wieder ein Jahr
später feiert er Napoleon als den Wiederhersteller der Gesellschaft und bietet
ihm neben seinen 400,000 Mann Soldaten den Beistand einer Armee von
40.000 Priestern und 60,000 Nonnen an.

Napoleon ließ sich den Beistand dieser Armee gefallen, weil er desselben
nicht mehr entbehren konnte. Aber mit einer Partei, für die ein Mensch
wie Veuillot das Wort führen konnte, war es schwer in dauerndem Ein¬
vernehmen zu bleiben. Die Regierung war bereit, in der Unterrichtsfrage
der Kirche bedeutende Zugeständnisse zu machen, die von den sogenannten
liberalen Katholiken, zu denen ein großer Theil des Episcopats gehörte und
an deren Spitze der Erzbischof von Paris, Sibour, stand, mit großer Be¬
friedigung aufgenommen wurden, nicht aber vom Univers, der jede Trans¬
action für ein Verbrechen erklärte. Nichts gleicht der Bosheit, mit welcher
der Univers jetzt über die liberalen Katholiken herfiel. Der Erzbischof von
Paris verbot das Blatt seinen Diöcesanen; auf den Befehl des Papstes muß
er das Verbot zurücknehmen. Damit war der Sieg des Ultramontanismus
über den freisinnigeren Theil der Katholiken entschieden, und Veuillot wurde
das gefürchtete Parteihaupt in Frankreich.

Für den Kaiser war dieser Sieg des Ultramontanismus höchst unange-


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[0271] Interessen durch die Regierung gefährdet scheinen. Sie unterstützen jedes System, jede Person, aber nur unter der Bedingung der Gegenseitigkeit, nicht als Diener, sondern als Verbündete. Die Katholiken hatten die Februarrevolution mit Freuden begrüßt, da ihnen das Julikönigthum trotz mancher Begünstigungen, deren sie sich in der letzten Zeit zu erfreuen gehabt hatten, doch immer für den incarnirten Voltairismus galt, gegen den man stets auf der Hut sein müsse. In der republikanischen Partei dagegen befanden sich einzelne Secten, die eine ge¬ wisse Verwandtschaft mit dem Katholicismus hatten, und vor Allem rech¬ neten die Klerikalen darauf, daß die republikanische Freiheit ihrem Einfluß auf Schule und Unterricht zu Gute kommen werde. Veuillots Organ, der Univers, hält der Monarchie folgende Leichenrede: „Unmoralisch unter Lud- wig XIV., scandalös unter Ludwig XV., despotisch unter Napoleon, unverständig bis 1830, hinterlistig, um nicht mehr zu sagen, bis 1848. unterliegt die Monarchie unter der Last ihrer Fehler! Ganz Europa ist auf dem Wege, republikanisch zu werden." Im Socialismus findet Veuillot Spuren des Christenthums; er verlangt, daß der Staat die Socia¬ listen bei ihren Experimenten mit seinen Mitteln unterstütze. Das Recht des Aufstandes ist ihm unter Umständen ein heiliges Recht. Er schwärmt für jede Freiheit, Preßfreiheit, Coalitionsfreiheit, Gewissensfreiheit. Im Jahre 1850 ist der Univers zu der Erkenntniß gekommen, daß nur die Wiederher¬ stellung der Bourbonen die Ordnung verbürge, und wieder ein Jahr später feiert er Napoleon als den Wiederhersteller der Gesellschaft und bietet ihm neben seinen 400,000 Mann Soldaten den Beistand einer Armee von 40.000 Priestern und 60,000 Nonnen an. Napoleon ließ sich den Beistand dieser Armee gefallen, weil er desselben nicht mehr entbehren konnte. Aber mit einer Partei, für die ein Mensch wie Veuillot das Wort führen konnte, war es schwer in dauerndem Ein¬ vernehmen zu bleiben. Die Regierung war bereit, in der Unterrichtsfrage der Kirche bedeutende Zugeständnisse zu machen, die von den sogenannten liberalen Katholiken, zu denen ein großer Theil des Episcopats gehörte und an deren Spitze der Erzbischof von Paris, Sibour, stand, mit großer Be¬ friedigung aufgenommen wurden, nicht aber vom Univers, der jede Trans¬ action für ein Verbrechen erklärte. Nichts gleicht der Bosheit, mit welcher der Univers jetzt über die liberalen Katholiken herfiel. Der Erzbischof von Paris verbot das Blatt seinen Diöcesanen; auf den Befehl des Papstes muß er das Verbot zurücknehmen. Damit war der Sieg des Ultramontanismus über den freisinnigeren Theil der Katholiken entschieden, und Veuillot wurde das gefürchtete Parteihaupt in Frankreich. Für den Kaiser war dieser Sieg des Ultramontanismus höchst unange-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/271>, abgerufen am 26.06.2024.