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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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zu einem nationalen Gesammtkörper. Ueber die Form der Vereinigung
gingen die Ansichten anfänglich sehr weit auseinander. Zwischen dem Ideal
Gioberti's, der zuerst den zündenden Funken in die Nation warf, einem
Bunde der italienischen Staaten unter dem Primate des Papstes, und dem
Ziele Cavour's liegt eine tiefe und weite Kluft, die zum Grabe für die
mannigfaltigsten Systeme wurde, bis endlich in der ganzen nationalen Partei
die Ueberzeugung zum Durchbruch kam, daß die einzig mögliche Form die
Consolidirung Italiens, der Einheitsstaat, und daß es Piemonts Beruf sei,
diesen Einheitsstaat zu verwirklichen. Von Gioberti's Idee war Nichts übrig
geblieben, als der Gedanke, daß nur Rom die Hauptstadt des neuen Italiens
sein könne, ein wahrer und berechtigter Gedanke, der aber wiederholt zur
Klippe für die Unabhängigkeit der italienischen Politik geworden ist. In
der römischen Frage ist Abwarten die richtige Taktik; die Ungeduld der
Italiener ist das Gängelband, mit dem Napoleon die Marionetten in Flo¬
renz lenkt.

Ueber die Vertreibung der Oestreicher dachte Napoleon grade wie die
Italiener. Wie er über die Constituirung des neuen Italiens dachte, wird
später zu erörtern sein; hier sei nur so viel bemerkt, daß eine kräftige Con-
svlidntion, überhaupt eine Stärkung Italiens keineswegs in seiner Absicht
lag. Ihm war die Nationalitätsidee Nichts als ein unächter Firmastempel;
die Befreiung Italiens von der östreichischen Herrschaft war ihm völlig gleich¬
bedeutend mit der Unterwerfung desselben unter den ausschließlich französi¬
schen Einfluß; und wenn er sie anders verstanden, wenn er Frankreichs
Macht den Italienern zur Gründung eines in Wahrheit unabhängigen Natio¬
nalitätsstaates geliehen hätte, so würden ihn alle französischen Staatsmänner
ohne Ausnahme des Verraths an der geheiligten Tradition der französischen
Politik geziehen haben. Er dachte aber gar nicht daran, sich dieses Verrathes
schuldig zu machen. Seine Politik war ihrem Wesen nach durchaus die alt¬
französische, nur daß er sie den Bedürfnissen der Zeit gemäß und weil Frank¬
reich immer nur für eine civilisatonsche Idee zu Felde zieht, geschickt mit der
Nationalitätenfrage verhüllte, um damit die öffentliche Meinung Europas
auf seine Seite zu bringen. Oestreich war der Feind, den Napoleon in der
Ebene der Lombardei bekämpfen wollte, die Herrschaft über Italien war der
Kampfpreis.

Die italienische Frage hatte indessen, so leicht sie sich bei der Jsolirung
Oestreichs und dem erwarteten Beistand der öffentlichen Meinung auch an¬
greifen ließ, doch auch ihre bedenkliche Seite. Denn -- ganz abgesehen von
dem berechtigten Zweifel, ob es möglich sein werde, die italienische Bewe¬
gung nach der Vertreibung der Oestreicher innerhalb der Schranken, die die
französische Politik ihr setzen wollte, fest zu halten, -- Napoleon hatte nie


zu einem nationalen Gesammtkörper. Ueber die Form der Vereinigung
gingen die Ansichten anfänglich sehr weit auseinander. Zwischen dem Ideal
Gioberti's, der zuerst den zündenden Funken in die Nation warf, einem
Bunde der italienischen Staaten unter dem Primate des Papstes, und dem
Ziele Cavour's liegt eine tiefe und weite Kluft, die zum Grabe für die
mannigfaltigsten Systeme wurde, bis endlich in der ganzen nationalen Partei
die Ueberzeugung zum Durchbruch kam, daß die einzig mögliche Form die
Consolidirung Italiens, der Einheitsstaat, und daß es Piemonts Beruf sei,
diesen Einheitsstaat zu verwirklichen. Von Gioberti's Idee war Nichts übrig
geblieben, als der Gedanke, daß nur Rom die Hauptstadt des neuen Italiens
sein könne, ein wahrer und berechtigter Gedanke, der aber wiederholt zur
Klippe für die Unabhängigkeit der italienischen Politik geworden ist. In
der römischen Frage ist Abwarten die richtige Taktik; die Ungeduld der
Italiener ist das Gängelband, mit dem Napoleon die Marionetten in Flo¬
renz lenkt.

Ueber die Vertreibung der Oestreicher dachte Napoleon grade wie die
Italiener. Wie er über die Constituirung des neuen Italiens dachte, wird
später zu erörtern sein; hier sei nur so viel bemerkt, daß eine kräftige Con-
svlidntion, überhaupt eine Stärkung Italiens keineswegs in seiner Absicht
lag. Ihm war die Nationalitätsidee Nichts als ein unächter Firmastempel;
die Befreiung Italiens von der östreichischen Herrschaft war ihm völlig gleich¬
bedeutend mit der Unterwerfung desselben unter den ausschließlich französi¬
schen Einfluß; und wenn er sie anders verstanden, wenn er Frankreichs
Macht den Italienern zur Gründung eines in Wahrheit unabhängigen Natio¬
nalitätsstaates geliehen hätte, so würden ihn alle französischen Staatsmänner
ohne Ausnahme des Verraths an der geheiligten Tradition der französischen
Politik geziehen haben. Er dachte aber gar nicht daran, sich dieses Verrathes
schuldig zu machen. Seine Politik war ihrem Wesen nach durchaus die alt¬
französische, nur daß er sie den Bedürfnissen der Zeit gemäß und weil Frank¬
reich immer nur für eine civilisatonsche Idee zu Felde zieht, geschickt mit der
Nationalitätenfrage verhüllte, um damit die öffentliche Meinung Europas
auf seine Seite zu bringen. Oestreich war der Feind, den Napoleon in der
Ebene der Lombardei bekämpfen wollte, die Herrschaft über Italien war der
Kampfpreis.

Die italienische Frage hatte indessen, so leicht sie sich bei der Jsolirung
Oestreichs und dem erwarteten Beistand der öffentlichen Meinung auch an¬
greifen ließ, doch auch ihre bedenkliche Seite. Denn — ganz abgesehen von
dem berechtigten Zweifel, ob es möglich sein werde, die italienische Bewe¬
gung nach der Vertreibung der Oestreicher innerhalb der Schranken, die die
französische Politik ihr setzen wollte, fest zu halten, — Napoleon hatte nie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/269>, abgerufen am 26.06.2024.