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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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wird der Mangel an eingehendem Verständniß und die den Franzosen eigen¬
thümliche Unkenntniß alles dessen, was außerhalb der Grenzen ihres Landes
liegt, vielleicht auch die Abneigung, sich auf die verschlungenen Wege der
auswärtigen Politik einzulassen, nur schwach verhüllt. Dieser Mangel ver¬
dient um so größeren Tadel, da bereits Rosen in seiner Geschichte der Türkei
eine ebenso eingehende wie klare Darstellung des diplomatischen Kampfes, der
dem Ausbruch des Krieges voranging, und der Verhandlungen, welche ihn
fast ununterbrochen begleiteten, gegeben hat, sodaß über die Beurtheilung
der Mittel und Ziele der kaiserlichen Politik der deutsche Geschichtsschreiber
bei weitem genügenderen Ausschluß gibt, als der Franzose.

Schwerlich dachte Napoleon, daß der erste Schritt, den er noch als
Präsident in der Angelegenheit der heiligen Stätten that, der Ausgangs¬
punkt für einen großen europäischen Conflict, der Angelpunkt seiner aus¬
wärtigen Politik werden würde. Als er für die lateinische Kirche die auf
einem Vertrage vom Jahre 1740 beruhenden, aber zum größten Theil ver¬
alteten Rechte von der Pforte reclamirte, verfolgte er dabei wahrscheinlich
nur das bescheidene Ziel, die Stellung Frankreichs als Schutzmacht der La¬
teiner in Erinnerung zu bringen und dadurch in Constantinopel, wo damals
Rußland und das durch ten energischen Sir Stratford Canning vertretene
England die ausschließlich tonangebenden Mächte waren, den tief gesunkenen
französischen Einfluß wieder zu heben. Daß er sein Eintreten in die orien¬
talischen Angelegenheiten an eine Frage von überwiegend kirchlichem Charak¬
ter knüpfte, für deren politische Seite in Europa ein sehr geringes Verständ¬
niß herrschte, war ihm ganz besonders erwünscht in Rücksicht auf die klerikale
Partei in Frankreich, deren Beistand ihm zu allen Zeiten und namentlich in
den ersten Jahren seiner Herrschaft von Wichtigkeit war, und die er, selbst
wo sie gelegentlich ihm feindlich gegenübertrat, immer noch mit einer ge¬
wissen Rücksicht behandelte. Sobald Napoleon indessen sah, daß sein Druck
auf die Pforte die allgemeine Mißbilligung der Kabinette fand, namentlich
Englands, zog er sich sofort vorsichtig aus seiner exponirten Stellung zu¬
rück indem er den Rechtsboden von 1740, wenn auch nur thatsächlich, auf¬
gab und sich unter principieller Wahrung der französischen Ansprüche mit
einigen unwesentlichen Zugeständnissen begnügte. Damit wäre die Ange¬
legenheit abgethan gewesen, wenn jetzt nicht Rußland, das nicht eine halbe,
sondern eine völlige Demüthigung der französischen Diplomatie wünschte,
aus der bis dahin bewahrten Zurückhaltung plötzlich herausgetreten wäre
und von der Pforte Bürgschaft sür die unbedingte Aufrechthaltung des Sta¬
tus puo verlangt hätte: eine Forderung, der es an jeder rechtlichen Begrün¬
dung fehlte und deren Bedeutung eben darin lag, daß sie den vorbehaltenen
französischen Ansprüchen gegenüber Rußland einen neuen Rechtstitel schaffen


wird der Mangel an eingehendem Verständniß und die den Franzosen eigen¬
thümliche Unkenntniß alles dessen, was außerhalb der Grenzen ihres Landes
liegt, vielleicht auch die Abneigung, sich auf die verschlungenen Wege der
auswärtigen Politik einzulassen, nur schwach verhüllt. Dieser Mangel ver¬
dient um so größeren Tadel, da bereits Rosen in seiner Geschichte der Türkei
eine ebenso eingehende wie klare Darstellung des diplomatischen Kampfes, der
dem Ausbruch des Krieges voranging, und der Verhandlungen, welche ihn
fast ununterbrochen begleiteten, gegeben hat, sodaß über die Beurtheilung
der Mittel und Ziele der kaiserlichen Politik der deutsche Geschichtsschreiber
bei weitem genügenderen Ausschluß gibt, als der Franzose.

Schwerlich dachte Napoleon, daß der erste Schritt, den er noch als
Präsident in der Angelegenheit der heiligen Stätten that, der Ausgangs¬
punkt für einen großen europäischen Conflict, der Angelpunkt seiner aus¬
wärtigen Politik werden würde. Als er für die lateinische Kirche die auf
einem Vertrage vom Jahre 1740 beruhenden, aber zum größten Theil ver¬
alteten Rechte von der Pforte reclamirte, verfolgte er dabei wahrscheinlich
nur das bescheidene Ziel, die Stellung Frankreichs als Schutzmacht der La¬
teiner in Erinnerung zu bringen und dadurch in Constantinopel, wo damals
Rußland und das durch ten energischen Sir Stratford Canning vertretene
England die ausschließlich tonangebenden Mächte waren, den tief gesunkenen
französischen Einfluß wieder zu heben. Daß er sein Eintreten in die orien¬
talischen Angelegenheiten an eine Frage von überwiegend kirchlichem Charak¬
ter knüpfte, für deren politische Seite in Europa ein sehr geringes Verständ¬
niß herrschte, war ihm ganz besonders erwünscht in Rücksicht auf die klerikale
Partei in Frankreich, deren Beistand ihm zu allen Zeiten und namentlich in
den ersten Jahren seiner Herrschaft von Wichtigkeit war, und die er, selbst
wo sie gelegentlich ihm feindlich gegenübertrat, immer noch mit einer ge¬
wissen Rücksicht behandelte. Sobald Napoleon indessen sah, daß sein Druck
auf die Pforte die allgemeine Mißbilligung der Kabinette fand, namentlich
Englands, zog er sich sofort vorsichtig aus seiner exponirten Stellung zu¬
rück indem er den Rechtsboden von 1740, wenn auch nur thatsächlich, auf¬
gab und sich unter principieller Wahrung der französischen Ansprüche mit
einigen unwesentlichen Zugeständnissen begnügte. Damit wäre die Ange¬
legenheit abgethan gewesen, wenn jetzt nicht Rußland, das nicht eine halbe,
sondern eine völlige Demüthigung der französischen Diplomatie wünschte,
aus der bis dahin bewahrten Zurückhaltung plötzlich herausgetreten wäre
und von der Pforte Bürgschaft sür die unbedingte Aufrechthaltung des Sta¬
tus puo verlangt hätte: eine Forderung, der es an jeder rechtlichen Begrün¬
dung fehlte und deren Bedeutung eben darin lag, daß sie den vorbehaltenen
französischen Ansprüchen gegenüber Rußland einen neuen Rechtstitel schaffen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/264>, abgerufen am 26.06.2024.