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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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sollt?, der Frankreich für immer gehindert haben würde, auf seine prin¬
cipiellen Forderungen zurückzukommen. Und in der That entschied die von
der Pforte niedergesetzte Commission ganz zu Gunsten Rußlands, nur daß
sie den Lateinern einen dritten Schlüssel zu der Basilica von Bethlehem ge¬
stattete. Und zur allgemeinen Überraschung der constantinopolitanischen
Diplomatie erklärte sich der französische Gesandte Lavalette mit diesem völ¬
lig werthlosen Zugeständnisse zufrieden und fügte sich auch, als die Pforte
noch weitergehenden, den Ansprüchen der Lateiner im höchsten Grade präjudi-
cirlichen Forderungen Rußlands nachgab.

Lag dieser Nachgiebigkeit Schwäche oder lag ihr bereits damals die Ab¬
sicht zu Grunde, Nußland zu immer weitergehenden Forderungen zu ermuthi-
gen und ihm dann, wenn es seine letzten Ziele enthüllt haben würde, eine
europäische Koalition oder wenigstens eine Allianz der Westmächre unter
Frankreichs Führung entgegenzustellen? Fügte sich Napoleon einfach in die
Umstände, oder ging ihm damals schon eine Ahnung von der ungeheuren Trag¬
weite dieser Angelegenheit auf? War letzteres der Fall, wollte er wirklich
Rußland in eine Sackgasse verlocken, so hätte das Mittel nicht geschickter
gewählt werden können. Nußland, in der Hoffnung sich mit England allein
verständigen zu können, setzte sich dem ganzen Europa und namentlich Frank¬
reich gegenüber, von dem es jetzt nichts mehr fürchtete, über alle Rücksichten
hinweg. Die Mission Menschikoffs zielte auf nichts Anderes, als dem
Sultan die Zustimmung zu dem Protectorat Rußlands über die griechisch¬
orthodoxe Kirche abzutrotzen, was 10 Millionen Unterthanen des Sultans
zu anerkannten Schützlingen des Czaren gemacht haben würde. Das Schei¬
tern Menschikoffs machte den Krieg unvermeidlich.

Bei dieser Gelegenheit trat die überlegene Voraussicht der französischen
Diplomatie im Gegensatz zu der englischen etwas schwerfälligen, ausschließlich
von Friedenswünschen beseelten Arglosigkeit glänzend hervor. Die fran¬
zösische Regierung hatte auf die Nachricht von Menschikoffs Auftreten eine
Flotte in die griechischen Gewässer abgesandt mit bestimmten Instructionen
für alle Eventualitäten, die darin gipfelten, daß im Fall einer Bedrohung
des Bosporus durch russische Schiffe die französische Flotte Constantinopel
schützen solle. Die Engländer, die keine Ahnung zu haben schienen von dem
Zweck der Menschikoffschen Sendung, mißbilligten dies Verfahren als auf¬
reizend und ließen selbst, zur höchsten Erbauung des Kaisers Nikolaus, in
Constantinopel ihr Bedauern darüber aussprechen. Noch im April räth Lord
Clarendon zur Nachgiebigkeit gegen Rußland, noch Ende dieses Monats
spricht er trotz der Warnungen Stratfords de Redcliff sein Vertrauen in
die Loyalität des Kaisers Nikolaus aus. Man konnte sich nicht entschließen,


Grenzboten III. I87V. 34

sollt?, der Frankreich für immer gehindert haben würde, auf seine prin¬
cipiellen Forderungen zurückzukommen. Und in der That entschied die von
der Pforte niedergesetzte Commission ganz zu Gunsten Rußlands, nur daß
sie den Lateinern einen dritten Schlüssel zu der Basilica von Bethlehem ge¬
stattete. Und zur allgemeinen Überraschung der constantinopolitanischen
Diplomatie erklärte sich der französische Gesandte Lavalette mit diesem völ¬
lig werthlosen Zugeständnisse zufrieden und fügte sich auch, als die Pforte
noch weitergehenden, den Ansprüchen der Lateiner im höchsten Grade präjudi-
cirlichen Forderungen Rußlands nachgab.

Lag dieser Nachgiebigkeit Schwäche oder lag ihr bereits damals die Ab¬
sicht zu Grunde, Nußland zu immer weitergehenden Forderungen zu ermuthi-
gen und ihm dann, wenn es seine letzten Ziele enthüllt haben würde, eine
europäische Koalition oder wenigstens eine Allianz der Westmächre unter
Frankreichs Führung entgegenzustellen? Fügte sich Napoleon einfach in die
Umstände, oder ging ihm damals schon eine Ahnung von der ungeheuren Trag¬
weite dieser Angelegenheit auf? War letzteres der Fall, wollte er wirklich
Rußland in eine Sackgasse verlocken, so hätte das Mittel nicht geschickter
gewählt werden können. Nußland, in der Hoffnung sich mit England allein
verständigen zu können, setzte sich dem ganzen Europa und namentlich Frank¬
reich gegenüber, von dem es jetzt nichts mehr fürchtete, über alle Rücksichten
hinweg. Die Mission Menschikoffs zielte auf nichts Anderes, als dem
Sultan die Zustimmung zu dem Protectorat Rußlands über die griechisch¬
orthodoxe Kirche abzutrotzen, was 10 Millionen Unterthanen des Sultans
zu anerkannten Schützlingen des Czaren gemacht haben würde. Das Schei¬
tern Menschikoffs machte den Krieg unvermeidlich.

Bei dieser Gelegenheit trat die überlegene Voraussicht der französischen
Diplomatie im Gegensatz zu der englischen etwas schwerfälligen, ausschließlich
von Friedenswünschen beseelten Arglosigkeit glänzend hervor. Die fran¬
zösische Regierung hatte auf die Nachricht von Menschikoffs Auftreten eine
Flotte in die griechischen Gewässer abgesandt mit bestimmten Instructionen
für alle Eventualitäten, die darin gipfelten, daß im Fall einer Bedrohung
des Bosporus durch russische Schiffe die französische Flotte Constantinopel
schützen solle. Die Engländer, die keine Ahnung zu haben schienen von dem
Zweck der Menschikoffschen Sendung, mißbilligten dies Verfahren als auf¬
reizend und ließen selbst, zur höchsten Erbauung des Kaisers Nikolaus, in
Constantinopel ihr Bedauern darüber aussprechen. Noch im April räth Lord
Clarendon zur Nachgiebigkeit gegen Rußland, noch Ende dieses Monats
spricht er trotz der Warnungen Stratfords de Redcliff sein Vertrauen in
die Loyalität des Kaisers Nikolaus aus. Man konnte sich nicht entschließen,


Grenzboten III. I87V. 34
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/265>, abgerufen am 26.06.2024.