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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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seit Kurzem Respekt vor der preußischen Militärmacht empfindet und Ruß-
land den Rath gibt, mit Preußen Frieden zu halten und seine Freundschaft
zu suchen. Um so mehr zeigt es seine Geringschätzung gegen die türkische
und östreichische Militärmacht, die, wie es meint, beim ersten Zusammenstoß
auch vereint von der russischen Armee über den Haufen gestoßen werden
würden.

Ueberhaupt kam Oestreich in der russischen Presse noch viel schlimmer
weg, als Preußen. Während es hier gesuchte gehässige Ausfälle waren,
welche nicht undeutlich die Mißgunst über das wachsende Ansehen Preußens
und des norddeutschen Bundes verrathen, treffen sie dort die schlimmen Zu¬
stände des östreichischen Staates, die wunden Stellen der staatsmännischen
Leitung. Der conservative "Wjest" wirst dem Reichskanzler ungemessenen
Ehrgeiz, Arroganz und excentrisches Wesen vor, gibt ihm Schuld an den
griechisch-türkischen Verwickelungen der letzten Zeit und spricht die Befürchtung
aus, die Fortsetzung dieses Verhaltens werde Europa noch in den Krieg
stürzen, dessen erstes Opfer Oestreich selbst sein müsse. Die russische Presse
erkennt dabei allerdings an, was Anerkennung verdiene, wie die liberalen
Einrichtungen, Steuerregulirung, Schwurgerichte, Ehegerichtsbarkeit, aber sie
benutzt diese Anerkennung auch sofort, um damit zu beweisen, daß von einer
systematischen Voreingenommenheit gegen die östreichische Regierung bei ihr
nicht die Rede sein könne. Sie verschließe ihre Augen ebensowenig anderen,
mit dem wahren Liberalismus unvereinbarer Handlungen derselben, wie Be¬
lagerungszustand, Preisgebung der ganzen russischen Ansiedlung in Galizien
an die oligarchischen Bestrebungen der Polen :c. -- Hält man hierzu die
oben erwähnten Ideen Fadiejeffs, so stellt sich heraus, daß das im gegen¬
wärtigen Jahrhundert bis auf sporadische Ausnahmen noch niemals auf¬
richtig gewesene Verhältniß zwischen Rußland und Oestreich auch im gegen¬
wärtigen Augenblick entschieden fröstelt. Es wäre kein Wunder, wenn die
russische Regierung die Ansichten des Generals unter solchen Umständen zu
den ihrigen machte, in der Meinung, auf diese Art am besten den inneren
Umtrieben ein Ende machen oder denselben eine Ableitung geben zu können.
Denn man sieht wohl ein, daß nach Innen Vorkehrungen nöthig sind, da
die letzten Monate sehr unangenehme Ueberraschungen ans Tageslicht ge¬
bracht haben, die ihre Wirkungen sogar bis in die kaiserliche Familie aus¬
dehnten. Man erinnert sich der boshaften Mystifaetion, die im vergangenen
Sommer in Livadia gespielt haben soll, wo ein Livell, das den kaiserlichen
Hof und besonders die Prinzessin Dagmar aufs härteste geißelt und mit Pro¬
phezeiung einer russischen Revolution schloß, welche die französische weit
übertreffen werde, aus der Rocktasche eines Kammerherrn bis vor das Auge
des Czaren gelangt war und arge Familienscenen hervorgerufen haben sollte.


seit Kurzem Respekt vor der preußischen Militärmacht empfindet und Ruß-
land den Rath gibt, mit Preußen Frieden zu halten und seine Freundschaft
zu suchen. Um so mehr zeigt es seine Geringschätzung gegen die türkische
und östreichische Militärmacht, die, wie es meint, beim ersten Zusammenstoß
auch vereint von der russischen Armee über den Haufen gestoßen werden
würden.

Ueberhaupt kam Oestreich in der russischen Presse noch viel schlimmer
weg, als Preußen. Während es hier gesuchte gehässige Ausfälle waren,
welche nicht undeutlich die Mißgunst über das wachsende Ansehen Preußens
und des norddeutschen Bundes verrathen, treffen sie dort die schlimmen Zu¬
stände des östreichischen Staates, die wunden Stellen der staatsmännischen
Leitung. Der conservative „Wjest" wirst dem Reichskanzler ungemessenen
Ehrgeiz, Arroganz und excentrisches Wesen vor, gibt ihm Schuld an den
griechisch-türkischen Verwickelungen der letzten Zeit und spricht die Befürchtung
aus, die Fortsetzung dieses Verhaltens werde Europa noch in den Krieg
stürzen, dessen erstes Opfer Oestreich selbst sein müsse. Die russische Presse
erkennt dabei allerdings an, was Anerkennung verdiene, wie die liberalen
Einrichtungen, Steuerregulirung, Schwurgerichte, Ehegerichtsbarkeit, aber sie
benutzt diese Anerkennung auch sofort, um damit zu beweisen, daß von einer
systematischen Voreingenommenheit gegen die östreichische Regierung bei ihr
nicht die Rede sein könne. Sie verschließe ihre Augen ebensowenig anderen,
mit dem wahren Liberalismus unvereinbarer Handlungen derselben, wie Be¬
lagerungszustand, Preisgebung der ganzen russischen Ansiedlung in Galizien
an die oligarchischen Bestrebungen der Polen :c. — Hält man hierzu die
oben erwähnten Ideen Fadiejeffs, so stellt sich heraus, daß das im gegen¬
wärtigen Jahrhundert bis auf sporadische Ausnahmen noch niemals auf¬
richtig gewesene Verhältniß zwischen Rußland und Oestreich auch im gegen¬
wärtigen Augenblick entschieden fröstelt. Es wäre kein Wunder, wenn die
russische Regierung die Ansichten des Generals unter solchen Umständen zu
den ihrigen machte, in der Meinung, auf diese Art am besten den inneren
Umtrieben ein Ende machen oder denselben eine Ableitung geben zu können.
Denn man sieht wohl ein, daß nach Innen Vorkehrungen nöthig sind, da
die letzten Monate sehr unangenehme Ueberraschungen ans Tageslicht ge¬
bracht haben, die ihre Wirkungen sogar bis in die kaiserliche Familie aus¬
dehnten. Man erinnert sich der boshaften Mystifaetion, die im vergangenen
Sommer in Livadia gespielt haben soll, wo ein Livell, das den kaiserlichen
Hof und besonders die Prinzessin Dagmar aufs härteste geißelt und mit Pro¬
phezeiung einer russischen Revolution schloß, welche die französische weit
übertreffen werde, aus der Rocktasche eines Kammerherrn bis vor das Auge
des Czaren gelangt war und arge Familienscenen hervorgerufen haben sollte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/24>, abgerufen am 26.06.2024.