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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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wolle, in die Schleifung seiner östlichen Festungen willigen! Der Fanatis¬
mus, so sehr ihn Kaiser Alexander selbst perhorrescirt hat, findet durch Er¬
eignisse in aristokratischen Kreisen Rußlands eine bedenkliche Unterstützung,
wie es sich an einem auffallenden Beispiel zeigt. Bei einer Soire'e forderte
ein Altrusse einen Progressisten, weil dieser behauptet hatte, daß mit Preußens
wachsender Bedeutung auch die Garantien für Rußlands innere Entwicklung
sich steigerten. Im englischen Club, in dem die Crsme der altrussischen Aristo¬
kratie vorherrscht, wurde beschlossen, Mitglieder deutschen Namens nur dann
aufzunehmen, wenn sie neben der erforderlichen Ahnen- und Vermögensqua-
lification auch als vollständig acclimatisirte Russen gelten. Infolge dessen
sind mehrere hochstehende Persönlichkeiten ausgeschieden, unter ihnen auch
solche, welche russische Namen führen, aber dem Stockrussenthum abhold sind.
Zwar erkennr man in manchen Kreisen die Nothwendigkeit einer freundlichen
Stellung zu Preußen gegenüber dem Westen wohl an und weiß deren Werth
zu schätzen, aber auch selbst hier kann man sich noch immer nicht darein finden,
daß sich diese Macht von dem russischen Einflüsse losgesagt hat und auf eige¬
nen Füßen steht. Es suchen einzelne rusfenfreundliche Zeitungen in Deutsch¬
land eine Vermittelung anzubahnen, wenn sie auseinandersetzen, das russische
Volk sei keineswegs den Deutschen abgeneigt und nur durch die Hetzereien
der Presse gegen sie eingenommen, welche bei dem geringen Bildungsgrade
und dem unentwickelten Unterscheidungsvermögen nicht ohne Wirkung
blieben. Sie sagen: Der russische Bauer dient lieber einem deutschen Herrn
oder Verwalter, als einem russischen; der russische Kaufmann, wenigstens der
solide, zieht den Geschäftsverkehr mit seinen deutschen Standesgenossen dem
mit einem russischen vor. Der russische Handwerker geht beim deutschen Meister
in die Lehre und rühmt sich dessen in späteren Jahren. Das Volk also
kennt keinen Haß. und die Gefahr, der die Deutschen in Rußland ausgesetzt
wären, erscheint nicht allzu groß. Aber das Proletariat in großen Städten
läßt sich zu Allem mißbrauchen, und es befürchten einige Deutsche, daß aus
dem Streite in den Zeitungen auch einmal ein Angriff gegen ihre Sicherheit
hervorgehen könnte. Sie wünschen daher, die russische Regierung möchte den
endlosen Hetzereien ein Ende machen. Und wirklich hat dieselbe bereits einen
Anfang damit gemacht, durch einen seit 1. Januar d. I. in Kraft getrete¬
nen Zusatz zum Preßgesetz, welcher hauptsächlich die Haltung der russischen
Tagespresse gegenüber den befreundeten Mächten betrifft und Concessions¬
entziehung androht, wenn ein Blatt nach zweimaliger Verwarnung noch
gegen das Gesetz verstoßen sollte. Ob das Gesetz aber gehörig angewendet
wird, muß die Zeit lehren; nöthigenfalls werden die Vertreter der Mächte
auf Anwendung dringen. Auf die Preßverhältniffe wird später noch die
Rede kommen, es ist hier nur noch,, zu bemerken, daß das Katkoff'sche Organ


wolle, in die Schleifung seiner östlichen Festungen willigen! Der Fanatis¬
mus, so sehr ihn Kaiser Alexander selbst perhorrescirt hat, findet durch Er¬
eignisse in aristokratischen Kreisen Rußlands eine bedenkliche Unterstützung,
wie es sich an einem auffallenden Beispiel zeigt. Bei einer Soire'e forderte
ein Altrusse einen Progressisten, weil dieser behauptet hatte, daß mit Preußens
wachsender Bedeutung auch die Garantien für Rußlands innere Entwicklung
sich steigerten. Im englischen Club, in dem die Crsme der altrussischen Aristo¬
kratie vorherrscht, wurde beschlossen, Mitglieder deutschen Namens nur dann
aufzunehmen, wenn sie neben der erforderlichen Ahnen- und Vermögensqua-
lification auch als vollständig acclimatisirte Russen gelten. Infolge dessen
sind mehrere hochstehende Persönlichkeiten ausgeschieden, unter ihnen auch
solche, welche russische Namen führen, aber dem Stockrussenthum abhold sind.
Zwar erkennr man in manchen Kreisen die Nothwendigkeit einer freundlichen
Stellung zu Preußen gegenüber dem Westen wohl an und weiß deren Werth
zu schätzen, aber auch selbst hier kann man sich noch immer nicht darein finden,
daß sich diese Macht von dem russischen Einflüsse losgesagt hat und auf eige¬
nen Füßen steht. Es suchen einzelne rusfenfreundliche Zeitungen in Deutsch¬
land eine Vermittelung anzubahnen, wenn sie auseinandersetzen, das russische
Volk sei keineswegs den Deutschen abgeneigt und nur durch die Hetzereien
der Presse gegen sie eingenommen, welche bei dem geringen Bildungsgrade
und dem unentwickelten Unterscheidungsvermögen nicht ohne Wirkung
blieben. Sie sagen: Der russische Bauer dient lieber einem deutschen Herrn
oder Verwalter, als einem russischen; der russische Kaufmann, wenigstens der
solide, zieht den Geschäftsverkehr mit seinen deutschen Standesgenossen dem
mit einem russischen vor. Der russische Handwerker geht beim deutschen Meister
in die Lehre und rühmt sich dessen in späteren Jahren. Das Volk also
kennt keinen Haß. und die Gefahr, der die Deutschen in Rußland ausgesetzt
wären, erscheint nicht allzu groß. Aber das Proletariat in großen Städten
läßt sich zu Allem mißbrauchen, und es befürchten einige Deutsche, daß aus
dem Streite in den Zeitungen auch einmal ein Angriff gegen ihre Sicherheit
hervorgehen könnte. Sie wünschen daher, die russische Regierung möchte den
endlosen Hetzereien ein Ende machen. Und wirklich hat dieselbe bereits einen
Anfang damit gemacht, durch einen seit 1. Januar d. I. in Kraft getrete¬
nen Zusatz zum Preßgesetz, welcher hauptsächlich die Haltung der russischen
Tagespresse gegenüber den befreundeten Mächten betrifft und Concessions¬
entziehung androht, wenn ein Blatt nach zweimaliger Verwarnung noch
gegen das Gesetz verstoßen sollte. Ob das Gesetz aber gehörig angewendet
wird, muß die Zeit lehren; nöthigenfalls werden die Vertreter der Mächte
auf Anwendung dringen. Auf die Preßverhältniffe wird später noch die
Rede kommen, es ist hier nur noch,, zu bemerken, daß das Katkoff'sche Organ


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/23>, abgerufen am 26.06.2024.