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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Macht und durch die Tradition der westmächtlichen Allianz in dommirender
Stellung; seine Position war der Archimedespunkt, von dem aus die
Verhältnisse zu bewegen waren. In specifischer Weise war es befähigt,
den Krieg zu beseitigen, indem es auf den Friedensbrecher drückte'; die blose
Andeutung einer Allianz mit Deutschland im Falle französischen Angriffs
vor Beschickung einer Conferenz (wie die Pariser Stipulationen sie in solchen
Fällen verlangen) würde genügt haben, den Chauvinismus des französischen
Kabinets abzukühlen. England betrachtet sich als den Hort der europäischen
Loyalität; es hat in der ersten Phase des deutsch-französischen Conflicts seine
Pflicht -- zuvörderst gegen sich selbst -- versäumt. Die Blaubücher lehren
zur Genüge, daß das Londoner Kabinet von der Kriegswuth des französi¬
schen vollkommen unterrichtet war; dennoch wurde gezögert; die Kriegserklä¬
rung Frankreichs kam zwei Tage nach dem englischen Vermittlungsanerbieten
in Berlin an, das schon leck von dem Schiffbruch war, den es in Paris erlitten.
Von Tag zu Tag haben sich seitdem die Zeichen gemehrt, daß England die seiner
Würde entsprechende Haltung nicht zu finden vermag. Leiden schon die Jour¬
nale an sittlichem Wankelmuth, so spricht aus den Antworten auf die Interpel¬
lationen in beiden Häusern des Parlaments eine Angst vor jeder Nöthigung zum
Entschlüsse, die etwas Greisenhaftes hat. Der einzige Nerv, den England bis¬
her noch in den Continent streckte, berührt Belgien. Aber das grobe Attentat
Napoleons auf diesen Staat, wie es die diplomatischen Enthüllungen dargethan
haben, war nicht im Stande, dem englischen Kabinet die richtigen Gesichts¬
punkte für die Beurtheilung der gegenwärtigen Lage aufzudrängen. Man darf
sich über die letzten Motive dieser Haltung nicht täuschen. Es ist ein Fluch des
auf die Spitze getriebenen Parlamentarismus, daß jedes Kabinet über den Rück¬
sichten seiner Selbsterhaltung kaum zu einem großen Entschlüsse kommt. Lords
und Gemeine aber sind, ungeachtet alles Geräusches, was von ihnen zu uns
dringt, gegen den Krieg; ein entschlossener, Ruhe gebietender Schritt der
Regierung gegen Frankreich würde den Ministern ohne Zweifel die Porte¬
feuilles gekostet haben. Das Princip der Nichtintervention ist in der That
englisches Glaubensbekenntniß geworden. Unsere Vettern über dem Meere
lehren uns, daß ihr höchster Stolz die Vorurteilslosigkeit, ihre politische
Weisheit die ist: zu vergessen. Vergessen sind die Tage der preußischen
Bündnisse und die Fieberanfälle der Coalition gegen den ersten Napoleon;
an Waterloo zu denken ist unzart, wie es "unfreundlich" ist, von bewaffneter
Neutralität zu reden; die Schatten Lord Chathams und des eisernen Herzogs
sind Scherze der Psychographen ! Wahrlich, wir beschwören sie nicht herauf.
Da England den großen Moment versäumt hat, der ihm die erste Stelle
in Europa wiedergeben konnte, da es sich durch seine Haltung vor dem
Kriege selbst neutralisirt hat, so haben wir nun, da der Krieg ausgebrochen
ist, nichts eifriger zu wünschen, als daß diese Neutralität genau bis zu


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Macht und durch die Tradition der westmächtlichen Allianz in dommirender
Stellung; seine Position war der Archimedespunkt, von dem aus die
Verhältnisse zu bewegen waren. In specifischer Weise war es befähigt,
den Krieg zu beseitigen, indem es auf den Friedensbrecher drückte'; die blose
Andeutung einer Allianz mit Deutschland im Falle französischen Angriffs
vor Beschickung einer Conferenz (wie die Pariser Stipulationen sie in solchen
Fällen verlangen) würde genügt haben, den Chauvinismus des französischen
Kabinets abzukühlen. England betrachtet sich als den Hort der europäischen
Loyalität; es hat in der ersten Phase des deutsch-französischen Conflicts seine
Pflicht — zuvörderst gegen sich selbst — versäumt. Die Blaubücher lehren
zur Genüge, daß das Londoner Kabinet von der Kriegswuth des französi¬
schen vollkommen unterrichtet war; dennoch wurde gezögert; die Kriegserklä¬
rung Frankreichs kam zwei Tage nach dem englischen Vermittlungsanerbieten
in Berlin an, das schon leck von dem Schiffbruch war, den es in Paris erlitten.
Von Tag zu Tag haben sich seitdem die Zeichen gemehrt, daß England die seiner
Würde entsprechende Haltung nicht zu finden vermag. Leiden schon die Jour¬
nale an sittlichem Wankelmuth, so spricht aus den Antworten auf die Interpel¬
lationen in beiden Häusern des Parlaments eine Angst vor jeder Nöthigung zum
Entschlüsse, die etwas Greisenhaftes hat. Der einzige Nerv, den England bis¬
her noch in den Continent streckte, berührt Belgien. Aber das grobe Attentat
Napoleons auf diesen Staat, wie es die diplomatischen Enthüllungen dargethan
haben, war nicht im Stande, dem englischen Kabinet die richtigen Gesichts¬
punkte für die Beurtheilung der gegenwärtigen Lage aufzudrängen. Man darf
sich über die letzten Motive dieser Haltung nicht täuschen. Es ist ein Fluch des
auf die Spitze getriebenen Parlamentarismus, daß jedes Kabinet über den Rück¬
sichten seiner Selbsterhaltung kaum zu einem großen Entschlüsse kommt. Lords
und Gemeine aber sind, ungeachtet alles Geräusches, was von ihnen zu uns
dringt, gegen den Krieg; ein entschlossener, Ruhe gebietender Schritt der
Regierung gegen Frankreich würde den Ministern ohne Zweifel die Porte¬
feuilles gekostet haben. Das Princip der Nichtintervention ist in der That
englisches Glaubensbekenntniß geworden. Unsere Vettern über dem Meere
lehren uns, daß ihr höchster Stolz die Vorurteilslosigkeit, ihre politische
Weisheit die ist: zu vergessen. Vergessen sind die Tage der preußischen
Bündnisse und die Fieberanfälle der Coalition gegen den ersten Napoleon;
an Waterloo zu denken ist unzart, wie es „unfreundlich" ist, von bewaffneter
Neutralität zu reden; die Schatten Lord Chathams und des eisernen Herzogs
sind Scherze der Psychographen ! Wahrlich, wir beschwören sie nicht herauf.
Da England den großen Moment versäumt hat, der ihm die erste Stelle
in Europa wiedergeben konnte, da es sich durch seine Haltung vor dem
Kriege selbst neutralisirt hat, so haben wir nun, da der Krieg ausgebrochen
ist, nichts eifriger zu wünschen, als daß diese Neutralität genau bis zu


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[0207] Macht und durch die Tradition der westmächtlichen Allianz in dommirender Stellung; seine Position war der Archimedespunkt, von dem aus die Verhältnisse zu bewegen waren. In specifischer Weise war es befähigt, den Krieg zu beseitigen, indem es auf den Friedensbrecher drückte'; die blose Andeutung einer Allianz mit Deutschland im Falle französischen Angriffs vor Beschickung einer Conferenz (wie die Pariser Stipulationen sie in solchen Fällen verlangen) würde genügt haben, den Chauvinismus des französischen Kabinets abzukühlen. England betrachtet sich als den Hort der europäischen Loyalität; es hat in der ersten Phase des deutsch-französischen Conflicts seine Pflicht — zuvörderst gegen sich selbst — versäumt. Die Blaubücher lehren zur Genüge, daß das Londoner Kabinet von der Kriegswuth des französi¬ schen vollkommen unterrichtet war; dennoch wurde gezögert; die Kriegserklä¬ rung Frankreichs kam zwei Tage nach dem englischen Vermittlungsanerbieten in Berlin an, das schon leck von dem Schiffbruch war, den es in Paris erlitten. Von Tag zu Tag haben sich seitdem die Zeichen gemehrt, daß England die seiner Würde entsprechende Haltung nicht zu finden vermag. Leiden schon die Jour¬ nale an sittlichem Wankelmuth, so spricht aus den Antworten auf die Interpel¬ lationen in beiden Häusern des Parlaments eine Angst vor jeder Nöthigung zum Entschlüsse, die etwas Greisenhaftes hat. Der einzige Nerv, den England bis¬ her noch in den Continent streckte, berührt Belgien. Aber das grobe Attentat Napoleons auf diesen Staat, wie es die diplomatischen Enthüllungen dargethan haben, war nicht im Stande, dem englischen Kabinet die richtigen Gesichts¬ punkte für die Beurtheilung der gegenwärtigen Lage aufzudrängen. Man darf sich über die letzten Motive dieser Haltung nicht täuschen. Es ist ein Fluch des auf die Spitze getriebenen Parlamentarismus, daß jedes Kabinet über den Rück¬ sichten seiner Selbsterhaltung kaum zu einem großen Entschlüsse kommt. Lords und Gemeine aber sind, ungeachtet alles Geräusches, was von ihnen zu uns dringt, gegen den Krieg; ein entschlossener, Ruhe gebietender Schritt der Regierung gegen Frankreich würde den Ministern ohne Zweifel die Porte¬ feuilles gekostet haben. Das Princip der Nichtintervention ist in der That englisches Glaubensbekenntniß geworden. Unsere Vettern über dem Meere lehren uns, daß ihr höchster Stolz die Vorurteilslosigkeit, ihre politische Weisheit die ist: zu vergessen. Vergessen sind die Tage der preußischen Bündnisse und die Fieberanfälle der Coalition gegen den ersten Napoleon; an Waterloo zu denken ist unzart, wie es „unfreundlich" ist, von bewaffneter Neutralität zu reden; die Schatten Lord Chathams und des eisernen Herzogs sind Scherze der Psychographen ! Wahrlich, wir beschwören sie nicht herauf. Da England den großen Moment versäumt hat, der ihm die erste Stelle in Europa wiedergeben konnte, da es sich durch seine Haltung vor dem Kriege selbst neutralisirt hat, so haben wir nun, da der Krieg ausgebrochen ist, nichts eifriger zu wünschen, als daß diese Neutralität genau bis zu 26"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/207>, abgerufen am 28.07.2024.