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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Leipzig, 30. December 1855.


Lieber verehrter Freund!

Seit meinem letzten Briefe, und zwar bald nach dessen Absendung, ist
mir Ihr erster Band Mozart mit Ihrer Zuschrift zugesendet worden; ob
letztere zugleich eine Antwort auf die meinige war, weiß ich nicht, es kommt
auch Nichts darauf an, sie hat mich sehr erfreut. Ebenso ein Sätzchen am
Schluß Ihrer Vorrede, das ich bei der Revision nicht gefunden habe, das mich
darum bei Empfang des Buches umso unmittelbarer mit freudiger Rührung an¬
sprechen mußte. Ich habe nun schon in dem Buche viel hin und wieder
gelesen; damit kann Ihnen nicht gedient sein. Aber die Weihnachtszeit läßt,
es wegen Sorge für Kirche und Haus eben nicht zu einem anständigen
Sitzenbleiben kommen, es muß dazu eine ruhigere, bis nach Neujahr abge¬
wartet werden. Ich höre aber schon von Anderen, daß sie ihre Freude
daran haben. Es ist eben ein Buch, bei dem Nichts darauf ankommt, was
dieser oder jener davon sagt. Es ist in seinem Werthe da und wird ihn
bewähren.

Ich habe, glaub ich, schon in meinem Letzten die Meinung gesagt, daß
es leichter sei, Beethoven als Mozart genial zu finden Eben habe ich einen
Brief von N., der mir das wieder bestätigt. Zwar ist da nicht von Mozart
gegen Beethoven die Rede, sondern gegen Haydn. hat eben ein Trio
von Haydn gehört, und das geht ihm nun in seiner Naivetät über alles,
was sonst nur da ist. Natürlich auch über alles von Mozart, das heißt
eben über Mozart'sche Kunstweise. Haydn ist mannigfaltiger, ungebundener
in der Form, als der auf italienischem Grund gebildete Mozart. Dieser ist
auch von frühester Zeit künstlerisch beaufsichtigt und erzogen worden, wo
Haydn wohl mehr aus sich selbst sich hat herausbilden müssen, Muster wohl
gehabt hat, aber keinen Schulmeister, der ihm seine Exercitia corrigirt und
eingeschnürt hat. Es ist dem hohen Genie Beider zu danken, daß der Eine
in der Schablone die Freiheit, der Andere in der Ungebundenheit die Form
gewonnen hat. Beide groß, konnte doch der Eine nicht was der Andere
konnte, Mozart keine Schöpfung und Jahreszeiten, Haydn keinen Don Juan
und Figaro: das leichte, pflanzenhaft auseinander hervorgehende Gebild ist
Mozarts Natur fremd. Wenn wir nun irgend eine Arie aus einem der
beiden Haydn'schen Oratorien betrachten, so gehen sie eben wie die vegeta¬
bilische Bildung in steter folgerechter Entwickelung vom Anfang nach dem
Ende, vom Keime bis zur Frucht, vollständig befriedigend, denn sie sprechen
eine gesunde Natur aus, die eine große Mannigfaltigkeit, scheinbar Willkür
gestattet, die aber in Wirklichkeit nicht da ist, denn auf dem Apfelbaum
wachsen keine Nüsse oder Pflaumen, die auch Haydn nicht hat darauf wachsen
lassen -- (heutzutage freilich hat mens in der Pomologie weiter gebracht).


Leipzig, 30. December 1855.


Lieber verehrter Freund!

Seit meinem letzten Briefe, und zwar bald nach dessen Absendung, ist
mir Ihr erster Band Mozart mit Ihrer Zuschrift zugesendet worden; ob
letztere zugleich eine Antwort auf die meinige war, weiß ich nicht, es kommt
auch Nichts darauf an, sie hat mich sehr erfreut. Ebenso ein Sätzchen am
Schluß Ihrer Vorrede, das ich bei der Revision nicht gefunden habe, das mich
darum bei Empfang des Buches umso unmittelbarer mit freudiger Rührung an¬
sprechen mußte. Ich habe nun schon in dem Buche viel hin und wieder
gelesen; damit kann Ihnen nicht gedient sein. Aber die Weihnachtszeit läßt,
es wegen Sorge für Kirche und Haus eben nicht zu einem anständigen
Sitzenbleiben kommen, es muß dazu eine ruhigere, bis nach Neujahr abge¬
wartet werden. Ich höre aber schon von Anderen, daß sie ihre Freude
daran haben. Es ist eben ein Buch, bei dem Nichts darauf ankommt, was
dieser oder jener davon sagt. Es ist in seinem Werthe da und wird ihn
bewähren.

Ich habe, glaub ich, schon in meinem Letzten die Meinung gesagt, daß
es leichter sei, Beethoven als Mozart genial zu finden Eben habe ich einen
Brief von N., der mir das wieder bestätigt. Zwar ist da nicht von Mozart
gegen Beethoven die Rede, sondern gegen Haydn. hat eben ein Trio
von Haydn gehört, und das geht ihm nun in seiner Naivetät über alles,
was sonst nur da ist. Natürlich auch über alles von Mozart, das heißt
eben über Mozart'sche Kunstweise. Haydn ist mannigfaltiger, ungebundener
in der Form, als der auf italienischem Grund gebildete Mozart. Dieser ist
auch von frühester Zeit künstlerisch beaufsichtigt und erzogen worden, wo
Haydn wohl mehr aus sich selbst sich hat herausbilden müssen, Muster wohl
gehabt hat, aber keinen Schulmeister, der ihm seine Exercitia corrigirt und
eingeschnürt hat. Es ist dem hohen Genie Beider zu danken, daß der Eine
in der Schablone die Freiheit, der Andere in der Ungebundenheit die Form
gewonnen hat. Beide groß, konnte doch der Eine nicht was der Andere
konnte, Mozart keine Schöpfung und Jahreszeiten, Haydn keinen Don Juan
und Figaro: das leichte, pflanzenhaft auseinander hervorgehende Gebild ist
Mozarts Natur fremd. Wenn wir nun irgend eine Arie aus einem der
beiden Haydn'schen Oratorien betrachten, so gehen sie eben wie die vegeta¬
bilische Bildung in steter folgerechter Entwickelung vom Anfang nach dem
Ende, vom Keime bis zur Frucht, vollständig befriedigend, denn sie sprechen
eine gesunde Natur aus, die eine große Mannigfaltigkeit, scheinbar Willkür
gestattet, die aber in Wirklichkeit nicht da ist, denn auf dem Apfelbaum
wachsen keine Nüsse oder Pflaumen, die auch Haydn nicht hat darauf wachsen
lassen — (heutzutage freilich hat mens in der Pomologie weiter gebracht).


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/90>, abgerufen am 27.07.2024.