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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Diese sprossende Mannigfaltigkeit ist bei Mozart unmöglich: wenn es auch
bei jenen Arien die Texte sein sollten, die zu der fortgehenden Formation
geführt hätten, so würde Mozart, wenn er sie überhaupt componirt hätte,
sie in eine musikalische Gestalt gebracht haben, die nicht blos Stamm und
Zweige, Blätter und Blüthen, sondern die Hand und Fuß hatte; denn einen
Unterschied wie den zwischen vegetabilisch und animalisch organisirter Bildung
könnte man hier wohl aussprechen: jene, die nur fortgeht, diese, die in sich
zurückgeht und für sich da ist. In gewissem Sinne möchte das auch der
Unterschied der Fuge und Sonate sein: in anderer Erscheinung des germa¬
nischen und griechischen Baustyls -- ein gothischer Thurm möchte immer noch
höher hinauf, mit der Säule und ihrem Gebälk ist die Höhe abgeschlossen,
eben wie mit dem Kopf die Menschengestalt, es kann Nichts weiter darauf
kommen. Hier ist aber überhaupt in allen Verhältnissen eine gesetzliche Be¬
stimmung gegeben, das Einzelne kann sich nur im Ganzen, als Theil des
Ganzen bilden und gestalten. So ist auch Mozart, so die Italiener im besten
Sinne; der reizenden freien, an das Willkürliche streifenden Mannigfaltigkeit
sind damit Schranken gesetzt, dafür ist die einheitsvolle Schönheit eingetreten,
etwas Ideales, das im Ganzen gefaßt sein will, zu dessen Schätzung aber
auch ein selbst einheitlicher, ein harmonisch gebildeter Sinn da sein muß, der
nicht "ein Stück in Stücken", der einen Leib in seinen Gliedern will. Daß
Mozart hier nicht als reizlos, Haydn nicht als einheitslos bezeichnet sein
soll, versteht sich von selbst. Ueberhaupt kommt es nur von N.'s enthusiasti¬
schem Ausfall her, daß gerade zwischen Mozart und Haydn unterschieden
werden sollte. Wenn man aber im Neuesten meint aus der Form in die
Unform einen Fortschritt gethan zu haben, so ist das ein trauriges Zeichen
für unseren Kunstzustand überhaupt.

Recht sehr freue ich mich auf Ihren Beethoven, wo manches da ein¬
schlagende zur Sprache wird kommen müssen, namentlich wo von seinen letzten
Kompositionen die Rede sein wird. Nachdem Sie im Mozart von der
künstlerischen Rundung und Formvollendung so hoch anerkennend und ein¬
dringlich belehrend gesprochen haben, wird bei Beethoven, da wo er eben
ganz Beethoven ist, wo er sich absondert, wie das in den letzten Sachen nicht
abzuleugnen ist, wohl von einem Uebermaß poetischen Inhaltes, dem es noch
nicht überall ganz gelingen will, sich künstlerisch formal zu gestalten, die Rede
sein können. Hier wird Einem auch der "Gährungsprozeß" nicht immer ganz
erlassen, wie Sie es an Mozart rühmen. Wo nach einer in Verknöcherung
abgelebten Zeit von einem Genius neuer poetischer Stoff in die Kunst ge¬
bracht wird, kann er nicht sogleich auch in kunstrechtfertiger Form erscheinen,
die alte ist nicht zerbrochen, sie ist aber zu eng, will ausgeweidet sein, gibt
sich hie und da auch wohl auseinander, wo der Inhalt überquillt und sich


Diese sprossende Mannigfaltigkeit ist bei Mozart unmöglich: wenn es auch
bei jenen Arien die Texte sein sollten, die zu der fortgehenden Formation
geführt hätten, so würde Mozart, wenn er sie überhaupt componirt hätte,
sie in eine musikalische Gestalt gebracht haben, die nicht blos Stamm und
Zweige, Blätter und Blüthen, sondern die Hand und Fuß hatte; denn einen
Unterschied wie den zwischen vegetabilisch und animalisch organisirter Bildung
könnte man hier wohl aussprechen: jene, die nur fortgeht, diese, die in sich
zurückgeht und für sich da ist. In gewissem Sinne möchte das auch der
Unterschied der Fuge und Sonate sein: in anderer Erscheinung des germa¬
nischen und griechischen Baustyls — ein gothischer Thurm möchte immer noch
höher hinauf, mit der Säule und ihrem Gebälk ist die Höhe abgeschlossen,
eben wie mit dem Kopf die Menschengestalt, es kann Nichts weiter darauf
kommen. Hier ist aber überhaupt in allen Verhältnissen eine gesetzliche Be¬
stimmung gegeben, das Einzelne kann sich nur im Ganzen, als Theil des
Ganzen bilden und gestalten. So ist auch Mozart, so die Italiener im besten
Sinne; der reizenden freien, an das Willkürliche streifenden Mannigfaltigkeit
sind damit Schranken gesetzt, dafür ist die einheitsvolle Schönheit eingetreten,
etwas Ideales, das im Ganzen gefaßt sein will, zu dessen Schätzung aber
auch ein selbst einheitlicher, ein harmonisch gebildeter Sinn da sein muß, der
nicht „ein Stück in Stücken", der einen Leib in seinen Gliedern will. Daß
Mozart hier nicht als reizlos, Haydn nicht als einheitslos bezeichnet sein
soll, versteht sich von selbst. Ueberhaupt kommt es nur von N.'s enthusiasti¬
schem Ausfall her, daß gerade zwischen Mozart und Haydn unterschieden
werden sollte. Wenn man aber im Neuesten meint aus der Form in die
Unform einen Fortschritt gethan zu haben, so ist das ein trauriges Zeichen
für unseren Kunstzustand überhaupt.

Recht sehr freue ich mich auf Ihren Beethoven, wo manches da ein¬
schlagende zur Sprache wird kommen müssen, namentlich wo von seinen letzten
Kompositionen die Rede sein wird. Nachdem Sie im Mozart von der
künstlerischen Rundung und Formvollendung so hoch anerkennend und ein¬
dringlich belehrend gesprochen haben, wird bei Beethoven, da wo er eben
ganz Beethoven ist, wo er sich absondert, wie das in den letzten Sachen nicht
abzuleugnen ist, wohl von einem Uebermaß poetischen Inhaltes, dem es noch
nicht überall ganz gelingen will, sich künstlerisch formal zu gestalten, die Rede
sein können. Hier wird Einem auch der „Gährungsprozeß" nicht immer ganz
erlassen, wie Sie es an Mozart rühmen. Wo nach einer in Verknöcherung
abgelebten Zeit von einem Genius neuer poetischer Stoff in die Kunst ge¬
bracht wird, kann er nicht sogleich auch in kunstrechtfertiger Form erscheinen,
die alte ist nicht zerbrochen, sie ist aber zu eng, will ausgeweidet sein, gibt
sich hie und da auch wohl auseinander, wo der Inhalt überquillt und sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/91>, abgerufen am 27.07.2024.