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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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und mit ihm endlich der feste Wille, das verlorene Terrain wiederzuerobern.
Sein Wirken war kein radicales, antikirchliches und brauchte dies auch
nicht zu sein. Vielmehr ließ ihn sein Glück innerhalb der katholischen Kirche
selbst eine Richtung vorfinden, der er sich zum großen Theil nur anzuschließen
brauchte, um die Rechte des Staats genügend zur Geltung zu bringen. Frei¬
lich war diese Richtung zunächst nur eine wissenschaftliche, besonders in den
Universitäten vertretene. Hier an den Hochschulen hatten die romanistischen
Tendenzen am wenigsten Platz greifen können, wenn es auch an forthwähren-
den Angriffen auf dieselben nicht gefehlt hat. Bereits in der Freysinger Denk¬
schrift vom Jahre 18S0 -- einer Zusammenstellung aller Schmerzen des
Episcopates -- hatten die Bischöfe über die Berufung protestantischer Aus¬
länder und den Verfall des katholischen Charakters der Würzburger und
Münchener Universität schwere Klage geführt, und wenn sie auf diesem
Punkte ausnahmsweise ruche durchdrangen, so verdankt Bayern dies weniger
dem Umstand, daß das Ministerium Zwehl an der Grenze seiner Nachgiebig¬
keit angekommen war. als dem humanen gebildeten Geist Maximilians
der. selbst den Wissenschaften mit Wärme ergeben, einen Eingriff in die Frei-
heit derselben niemals hingenommen hätte.

In Folge dessen blieb auch für die katholische Geistlichkeit der Lehrstuhl
die einzige Möglichkeit einer freieren wissenschaftlichen Bewegung, Dem
Organismus des Clerus nicht eingefügt und durch die Besoldung des Staates
materiell unabhängig gemacht, waren die Professoren den bischöflichen Cen¬
suren mehr oder weniger entzogen. Unter diesen günstigen Verhältnissen
hatte sich an der theologischen Facultät München eine freiere Richtung, die
sog. "deutsche historische" oder "neue Münchener Schule" herauszubilden ver¬
mocht, an deren Spitze Stiftsprobst Dölltnger stand. Was sie zunächst er¬
strebte war, der theologischen Wissenschaft als dem Organ des kirchlichen
Gesammtbewußtseins einen größeren Einfluß auf die Kirche zu verschaffen.
Man ging hiermit nicht nur über das gegenwärtig herrschende Papalsystem,
sondern auch über das Episcopalsystem hinaus, indem neben Papst und
Bischöfen die kirchliche Gesammtheit als endgiltig maßgebender Factor betont
wurde. Papst und Bischöfe haben nur zu fixiren, was die Gesammtheit der
Gläubigen, vertreten durch die Wissenschaft, über eine religiöse Frage denkt
und glaubt. Die Aehnlichkeit dieser Richtung in der Theologie mit Savig-
ny's historischer Schule ist frappirend. Hier wie dort wird das Werden und
Entstehen eines Gesetzes oder Dogmas im Bewußtsein des Volkes resp, der
Gläubigen gegenüber einer willkührlichen Gesetzmacherei oder Dogmenfabrika-
tion von oben herab hervorgehoben. Es ist klar, daß mit einer solchen Be¬
tonung der Wissenschaft innerhalb der Kirche sich weder der päpstliche Index


Grenzboten II. 1870. 65

und mit ihm endlich der feste Wille, das verlorene Terrain wiederzuerobern.
Sein Wirken war kein radicales, antikirchliches und brauchte dies auch
nicht zu sein. Vielmehr ließ ihn sein Glück innerhalb der katholischen Kirche
selbst eine Richtung vorfinden, der er sich zum großen Theil nur anzuschließen
brauchte, um die Rechte des Staats genügend zur Geltung zu bringen. Frei¬
lich war diese Richtung zunächst nur eine wissenschaftliche, besonders in den
Universitäten vertretene. Hier an den Hochschulen hatten die romanistischen
Tendenzen am wenigsten Platz greifen können, wenn es auch an forthwähren-
den Angriffen auf dieselben nicht gefehlt hat. Bereits in der Freysinger Denk¬
schrift vom Jahre 18S0 — einer Zusammenstellung aller Schmerzen des
Episcopates — hatten die Bischöfe über die Berufung protestantischer Aus¬
länder und den Verfall des katholischen Charakters der Würzburger und
Münchener Universität schwere Klage geführt, und wenn sie auf diesem
Punkte ausnahmsweise ruche durchdrangen, so verdankt Bayern dies weniger
dem Umstand, daß das Ministerium Zwehl an der Grenze seiner Nachgiebig¬
keit angekommen war. als dem humanen gebildeten Geist Maximilians
der. selbst den Wissenschaften mit Wärme ergeben, einen Eingriff in die Frei-
heit derselben niemals hingenommen hätte.

In Folge dessen blieb auch für die katholische Geistlichkeit der Lehrstuhl
die einzige Möglichkeit einer freieren wissenschaftlichen Bewegung, Dem
Organismus des Clerus nicht eingefügt und durch die Besoldung des Staates
materiell unabhängig gemacht, waren die Professoren den bischöflichen Cen¬
suren mehr oder weniger entzogen. Unter diesen günstigen Verhältnissen
hatte sich an der theologischen Facultät München eine freiere Richtung, die
sog. „deutsche historische" oder „neue Münchener Schule" herauszubilden ver¬
mocht, an deren Spitze Stiftsprobst Dölltnger stand. Was sie zunächst er¬
strebte war, der theologischen Wissenschaft als dem Organ des kirchlichen
Gesammtbewußtseins einen größeren Einfluß auf die Kirche zu verschaffen.
Man ging hiermit nicht nur über das gegenwärtig herrschende Papalsystem,
sondern auch über das Episcopalsystem hinaus, indem neben Papst und
Bischöfen die kirchliche Gesammtheit als endgiltig maßgebender Factor betont
wurde. Papst und Bischöfe haben nur zu fixiren, was die Gesammtheit der
Gläubigen, vertreten durch die Wissenschaft, über eine religiöse Frage denkt
und glaubt. Die Aehnlichkeit dieser Richtung in der Theologie mit Savig-
ny's historischer Schule ist frappirend. Hier wie dort wird das Werden und
Entstehen eines Gesetzes oder Dogmas im Bewußtsein des Volkes resp, der
Gläubigen gegenüber einer willkührlichen Gesetzmacherei oder Dogmenfabrika-
tion von oben herab hervorgehoben. Es ist klar, daß mit einer solchen Be¬
tonung der Wissenschaft innerhalb der Kirche sich weder der päpstliche Index


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/519>, abgerufen am 01.09.2024.